Omertà - Die ganze Geschichte der Mafia: Camorra, Cosa Nostra und ´Ndrangheta (German Edition)
mit Drohungen zum Schweigen brachten. Doch die Beweislast gegen sie erwies sich als niederdrückend. Der neue Boss von Palmi, Antonio Giannino, erst 20 Jahre alt, unterwies seine Bande im Messerkampf. Tatsächlich war er so stolz auf sein Können, dass er sich in Kämpferpose ablichten ließ. Das Foto sollte später zu seiner Überführung beitragen.
Das Gerichtsverfahren von 1892 fügte dem, was die Polizei bereits über die
Picciotteria
wusste, weitere Details hinzu: das typische Erscheinungsbild ihrer Anhänger zum Beispiel. Die
picciotti
trugen rätselhafte Tätowierungen, die ihren Rang signalisierten, enge Schlaghosen, banden sich die seidenen Schals in besonderer Manier, so dass die losen Enden flatterten, und kämmten sich die Scheitel zu Schmetterlingstollen.
Als nach der gewaltigen Verfolgung von 1892 wieder Friede einkehrte in Palmi, war er freilich nicht von Dauer. 1894 wurde die Stadt von Erdstößen in Schutt und Asche gelegt. Schon im Jahr darauf war die
Picciotteria
wieder aktiv, zog raubend und Schutzgeld erpressend durch die behelfsmäßigen Baracken, in denen ein Großteil der Bevölkerung noch immer lebte. Doch die Polizei schien tatenlos dabeizustehen. Kommentatoren in der Presse deuteten an, die Ordnungshüter in Palmi führten ihre »Abendunterhaltungen« in denselben Weinkellern, in denen die Ganoven abhingen, und seien weniger daran interessiert, gegen das organisierte Verbrechen vorzugehen, als während der Wahlen oppositionelle Wähler zu verhaften. In den größeren Städten Kalabriens tat es die Polizei bald ihren Kollegen in Neapel und Sizilien gleich und versuchte, die Kriminalität in Zusammenarbeit mit der
Picciotteria
in Schach zu halten.
Im September 1896 führte eine neuerliche Verhaftungswelle endlich zu weiteren Geständnissen. Zu Beginn des Jahres 1897 lieferte das daraus resultierende Verfahren zum ersten Mal ausführliche Details über Rangordnung und Rituale der kalabrischen Mafia. Die
Picciotteria
bestand aus einzelnen örtlichen Zellen oder »Sektionen«. Jede Zelle war in eine Untere und eine Obere Gesellschaft unterteilt. Die Untere Gesellschaft bestand aus rangniedrigen
picciotti
, die Obere aus den ranghöheren Camorristi. Sowohl die Obere als auch die Untere Gesellschaft hatten ihren eigenen Boss und einen
contaiolo
oder Buchhalter, der die Einkünfte der Bande aus den Verbrechen sammelte und gerecht verteilte. Jedes neue Mitglied musste sich, um der Gesellschaft beizutreten, einem Initiationsritual unterziehen, ehe es den niedrigsten Rang erhielt, den des »Ehrenwerten Burschen«. Der Boss der Oberen Gesellschaft pflegte seine Männer in einem abgedunkelten Raum zu versammeln, sie im Kreis Aufstellung nehmen zu lassen und die lange Zeremonie mit den Worten einzuleiten: »Geht es euch gut?«, worauf die Anwesenden zu antworten hatten: »Sehr gut!«
Am 24 . Februar 1897 betrat ein wichtiger Zeuge, ein Mann namens Pasquale Trimboli, im nachfolgenden Prozess im Gerichtshof von Palmi den Zeugenstand. Die Angeklagten in ihrem Käfig und die Öffentlichkeit, die sich auf der kleinen Empore drängte, reckten die Hälse, um zu hören, was er zu sagen hatte. Trimboli war ein Mitglied der
Picciotteria
gewesen und wusste daher alles über die Sekte – einschließlich des schrecklichen Geheimnisses ihrer Ursprünge. Mit der Erwähnung der mysteriösen Genese der
Picciotteria
schlug er das Gericht in seinen Bann. Doch die Stimmung intensiver Konzentration wich bald schon verblüfftem Gelächter, als er seine kindische Version von der Entstehungsgeschichte der kalabrischen Mafia erzählte.
»Die Gesellschaft wurde von drei Rittern ins Leben gerufen, der eine aus Spanien, der zweite aus Palermo, der dritte aus Neapel. Alle drei waren Camorristi. Der spanische Ritter verlangte von den anderen für jede Partie Karten eine Camorra, ein Bestechungsgeld. Mit der Zeit hatte er ihnen ihr gesamtes Geld abgeknöpft, und sie konnten nicht mehr spielen. Also gab er jedem zehn Lire zurück und sagte: ›Hier sind zehn Lire für dich, das Übrige behalte ich, denn ich bin der Stärkste.‹
Metaphorisch betrachtet waren diese drei Camorristi ein
Baum
. Der Boss, der spanische Ritter, war der
Stamm
. Der Ritter aus Palermo, der älteste der drei, war der Meisterknochen, Mastrosso. Und der dritte Ritter, der aus Neapel, war der Knochen,
Osso
. Die anderen Mitglieder waren die
Zweige
und
Blätter
. Die ›Ehrenwerten Burschen‹, die den Wunsch hatten,
picciotti
zu werden, waren
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