Ondragon - Menschenhunger
Spritztouren machen konnte. Die ganze Sache ist überhaupt nur aufgeflogen, weil der gewisse Gast, dem Bates diesen Gefallen getan hat, eines Tages spurlos verschwunden ist. Wir haben nach ihm gesucht und dabei die Reifenspuren von seinem Auto entdeckt.“
Soweit deckte sich Vernons Geschichte mit der von Kateri Wolfe, dachte Ondragon. Doch was der Masseur danach erzählte, war neu … und äußerst … fabulös.
„Natürlich ist es nur ein Gerücht, aber alle hier in der Lodge kennen es.“ Vernon klatschte mit beiden Händen auf Ondragons Rücken. „Ich habe es auch nur von jemandem gehört. Angeblich soll Jeremy Bates zwei Tage vor dem Vorfall gegen Abend hinten zum Spabereich nach draußen gegangen sein, um eine zu rauchen. Dabei soll er seltsame Spuren im Schnee gefunden und sie aus Neugierde bis in den Wald hinein verfolgt haben. Ein Geräusch hat ihn auf eine Gestalt aufmerksam werden lassen, die sich in einiger Entfernung durch das verschneite Gestrüpp schlich. Bates verbarg sich hinter einem Baumstamm und beobachtete die Gestalt. Sie soll ein zotteliges Fell gehabt haben und doppelt so groß gewesen sein wie er selbst!“
„Ein Bär!“
„Nein, kein Bär!“ Vernon machte eine bedeutungsvolle Pause, um die Dramatik seiner Erzählung zu erhöhen. Und Ondragon fragte sich derweil, ob er hier gerade einen besonders dicken Vertreter der Familie Ursidae aufgebunden bekam, aber er ließ Vernon weiterplaudern.
„Bates bemerkte wohl, wie die unheimliche Gestalt etwas in den Schnee fallen ließ. Er wartete und ging, nachdem das Wesen verschwunden war, zu der Stelle und grub es aus.“ Hier lachte Vernon amüsiert auf. „Wahrscheinlich wünscht er sich noch heute, er hätte es besser nicht getan!“ Sein Lachen erstarb, und seine Stimme senkte sich geheimnisvoll, so als erzähle er seinen Kindern eine Gruselgeschichte. In der Tat war er kein schlechter Märchenonkel. Aufmerksam lauschte Ondragon. „Was Bates fand, war wohl nicht gerade appetitlich, wissen Sie? Man erzählt sich, er hätte sich später auf seinem Zimmer immer wieder übergeben.“ Wieder eine Pause. „Raten Sie doch mal, was im Schnee gelegen hat, Paul?“
Ondragon zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“
„Bates soll einen menschlichen Arm gefunden haben! Eine blutige Frauenhand mit lackierten Nägeln!“
Ondragon fragte sich, woher Vernon das so genau wusste, wenn er doch nicht dabei gewesen war, oder warum damals niemand die Polizei eingeschaltet hatte. Er ließ dem Masseur die Freude an seinem fantastischen Schauermärchen und hörte sich bereitwillig auch noch das Ende an. Natürlich war der Arm verschwunden und sämtliche Spuren verwischt gewesen, als Bates wenig später gemeinsam mit dem Kollegen die besagte Stelle aufgesucht hatte. Aber Bates hatte immer wieder von der Gestalt erzählt und behauptet, es sei der Wendigo gewesen.
Na klar, dachte Ondragon. Jetzt begegnete er diesem Märchenwesen schon zum zweiten Mal.
„Haben Sie schon mal vom Wendigo gehört, Paul?“, fragte Vernon.
„Ja, das ist so doch ein indianisches Waldmonster, das Menschen frisst, oder?“
„Genau. Ganz schön spooky , was?“ Vernon klopfte Ondragon erneut auf den Rücken. „So, Sie können sich jetzt umdrehen, dann nehme ich mir mal Ihre Beine vor.“
Ondragon legte sich auf den Rücken. „Nette Story. Aber was hat Bates dann gemacht?“
Vernon hob die gewaltigen Achseln. „Er ist durchgedreht. Hat immer wieder diese Geschichte erzählt. Zwei Tage später war weg.“
Ondragon schürzte nachdenklich die Lippen. War dies nun einfach eine Gruselgeschichte, die sich die Angestellten zusammenfabuliert hatten? Lange, einsame Winternächte machten ja bekanntlich schwermütig … aber auch erfinderisch. Das würde jeder Skandinavier sofort unterschreiben. In der Bates-Sache gab es allerdings zu viele Unstimmigkeiten, als dass nicht doch ein Fünkchen Wahrheit dran sein könnte, zumindest an seinem psychotischen Verhalten.
„Machen Sie sich keine Sorgen, Paul. Es gibt keinen Wendigo. Das ist alles bloß erfunden. Bates war eine Nervensäge, es wurde viel über ihn geredet. Er war eben ein komischer Kauz und hat allen ständig mit diesen dämlichen Gesundheitsschuhen in den Ohren gelegen, war wohl nebenbei noch im Vertrieb für diese Dinger tätig. Wissen Sie, welche ich meine? Diese komischen, sauteuren Barfuß-Schuhe mit der abgerundeten Sohle. Die sind gerade der neueste Schrei. Bates trug selbst immer welche. Außerdem wusste jeder, dass
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