Ondragon - Menschenhunger
er sich hier nie wohlgefühlt und immer Angst vor der Wildnis gehabt hatte.“ Vernon lachte, als sei dies das Abwegigste von der Welt. „Er ist einfach nicht klargekommen und durchgedreht. Und der verschwundene Gast ist ja schließlich auch wieder aufgetaucht, er hatte die Behandlung auf eigenen Wunsch abgebrochen und war, ohne Bescheid zu sagen, nach Hause gefahren. So einfach ist das!“
Ondragon nickte, während er sich fragte, was der verschwundene Oliver Orchid wohl über seinen Therapieabbruch zu berichten hätte.
„Machen Sie viel Sport, Paul?“, wechselte Vernon das Thema. „Ihr Körper ist gut durchtrainiert, das merkt man auch beim Massieren. Kleine Verspannungen hier und da, aber ansonsten eine gute Muskulatur.“
„Ja, ich versuche jeden zweiten Tag etwas zu machen, Joggen, Kampfsport, Basketball …“
„Basketball? Hey, das trifft sich gut, dann können wir ja mal ‘ne Runde spielen, wenn Sie Lust haben und das Wetter wieder besser ist. Neben dem Tennisplatz gibt es einen Korb, und ich habe einen guten Lederball. Den hab ich immer dabei, sogar damals auf dem Schiff.“ Vernon lachte sein angenehm tiefes Lachen, wie es nur entspannte Afroamerikaner haben konnten.
„Warum nicht, ist eine gute Alternative zum Joggen. Aber es geht erst, wenn ich neue Sportschuhe habe. Meine sind nämlich heute von der Polizei konfisziert worden.“
„Ach, Sie sind derjenige, der in die Leiche getreten ist! Ganz schön ekelig!“
Na prima, dachte Ondragon, das hatte sich also auch schon herumgesprochen. Es war unfassbar, wie schnell das hier ging.
Vernon zog die Nase kraus. „ Yacky . Also wer ist denn jetzt der Tote? Weiß man schon Näheres?“
Ondragon hatte Deputy Hase erzählen hören, dass die Polizei alle Vermisstenfälle aus dem letzten halben Jahr durchging. Das konnte nur bedeuten, man glaubte, dass es niemand aus der Lodge war. „Der Medical Examiner muss die Leiche erst untersuchen“, entgegnete er und verschwieg vorsichtshalber den hauptverdächtigen Bären. Dabei fiel ihm auf, dass Kateri im Gegensatz zu allen anderen hier dichtgehalten haben musste, denn über die vermeintliche Bärenattacke wusste Vernon offenbar nichts. „Vielleicht war es wirklich nur ein Wanderer, der einen Unfall hatte.“
„Tja, ich will hoffen, dass es tatsächlich so war.“ Der Tonfall des Masseurs war merkwürdig, so als habe er eine schlechte Ahnung im Hinterkopf. Ondragon hätte ihn am liebsten danach gefragt, doch er wollte sich nicht als zu neugierig aufdrängen. Sein Interesse musste unauffällig bleiben. Deshalb bedankte er sich bei Vernon für die hervorragende Massage und erhob sich von der Pritsche.
„Ich hoffe, ich habe Sie mit meiner Schauergeschichte jetzt nicht verschreckt.“
„Nein, ganz und gar nicht. Im Gegenteil, Sie haben mich glänzend unterhalten, Vernon. Ich komme auf jeden Fall wieder. Und … sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie Lust auf eine Partie Basketball haben.“
„Klar, Mann. Bis dann.“
Nachdem Ondragon sich in seinem Zimmer entsprechend angekleidet hatte, begab er sich zum Mittagessen, wo er an Kateri Wolfes Tisch Platz nahm.
„Na, haben Sie sich im Spa entspannt?“, fragte sie.
Er sah sie an. Gestern Abend war er ihr nicht auf ihr Zimmer gefolgt, was er durchaus hätte tun können, denn ihre Signale waren eindeutig gewesen. Etwas hatte ihn davon abgehalten. Keine Ahnung, was. Vernunftgefühl, gute Erziehung, Anstand? Was auch immer es gewesen sein mochte, es war der Grund, warum er ihr jetzt offen ins Gesicht blicken konnte, ohne peinlich berührt zu sein. Im Stillen dankte er seiner inneren Stimme dafür, ihn davon abgehalten zu haben. Nicht, dass er Miss Wolfe nicht äußerst attraktiv fand, aber er fühlte sich wesentlich wohler dabei, vorerst einen gewissen Abstand zu wahren; reiner Nervenkitzel. Das Rätsel um diese Frau wollte er sich noch ein wenig länger warmhalten.
„Woher wissen Sie, dass ich im Spa war?“, fragte er zurück.
„Ich bin gerade in die Sauna gegangen, als Sie davor ein Nickerchen gemacht haben.“
„Sie mögen also auch das Schwitzen?“
„Als Kind war ich mit meinen Eltern oft in einer Schwitzhütte, die wir hinten im Garten gebaut hatten. Für mich ist es aber eher eine spirituelle Angelegenheit. Beim Schwitzen öffnet sich der Geist für die anderen Welten, die wir sonst nicht wahrnehmen. Es verbindet einen mit den Elementen, dem Leben.“
Ondragon nickte. Auch für ihn war die Sauna eine Art Rückzugsort, ein sicherer Platz, an
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