Ondragon - Menschenhunger
schlängelte. In seiner rechten Klaue hielt er die japanischen Schriftzeichen für das Wort Rätsel und in der anderen ein O .
Ondragon blickte kurz an sich herunter und nickte. „Danke, war ‘ne kleine Jungendsünde. Hab ich mir mit achtzehn in Japan stechen lassen, auf traditionelle Weise mit Bambusnadeln. Kann ich wirklich niemandem empfehlen, hat höllisch wehgetan! Aber es erinnert mich stets an etwas, und deshalb konnte ich mich noch nicht davon trennen.“
Vernons Babygesicht verzog sich zu einem Lächeln. Er krempelte seinen linken Ärmel hoch und entblößte stolz einen Anker und zwei Schwalben auf seinem Ballon-Bizeps. Ein Klassiker.
„Aus Hamburg, bin mal zur See gefahren, bevor ich umgeschult habe.“
„Na, dann sind Sie ja schon viel rumgekommen.“ Ondragon legte sich mit dem Bauch auf die Pritsche, und Vernon begann fachmännisch sein Werk. „Finden Sie das dann nicht ein bisschen zu langweilig hier mitten im Nirgendwo?“, fragte er den Masseur und spürte mehr als dass er es sah, wie Vernon mit den massigen Schultern zuckte.
„Ich hab mich, wie sagt man, ganz ordentlich ausgetobt in meiner Vergangenheit.“ Er lachte, und Ondragon konnte sich gut vorstellen, was er meinte. „Aber irgendwann hat man jeden Hafen gesehen und stellt fest, dass der beste Kai immer noch zu Hause ist.“
Das war weise.
„Ich komme aus Minneapolis und die See hat mich gelehrt, dass ein Mensch nur schwer zu entwurzeln ist. Deshalb bin ich zurückgekommen und, hey, ich hab eine süße Lady kennengelernt und sie geheiratet. Wir haben zwei Kinder.“
Beneidenswert. Ondragon fragte sich, wo er selbst seine Wurzeln hatte. In Schweden? Oder in Deutschland? Thailand? Japan?
„Und wie sieht es mit Ihnen aus, Paul? Haben Sie Kinder?“
Ondragon überlegte, was er erzählen sollte. Er hatte nicht einmal eine feste Freundin, weil das, was er tat, zu gefährlich war, um es mit Frau und Kindern zu vereinbaren. Für ihn war es besser, ohne zu sein. Eine Familie machte ihn erpressbar. Sicher, auch Mafiabosse hatten eine Familie, meistens sogar eine ziemlich große, obwohl sie viele Feinde hatten. Vielleicht war es aber auch so, dass er sich noch nicht bereit dazu fühlte, diese Verantwortung zu übernehmen. Er drehte den Kopf, um den dunkelhäutigen Riesen ins Blickfeld zu bekommen. Dessen Hände walkten und kneteten seinen Rücken als sei er Brotteig.
„Nein, ich habe keine Kinder. Ich glaube, ich habe einfach noch nicht die richtige Frau gefunden.“
„Das ist schade, Mann. Kinder sind das Salz des Lebens. Es gibt nichts Schöneres, als sie aufwachsen zu sehen.“
„Darf ich Sie fragen, wo Ihre Familie lebt? Doch sicher nicht hier auf dem Gelände der Lodge, oder?“
„Sie wohnen in Cook, das liegt dreißig Meilen südlich von Orr. Dort hat meine Frau einen Job und die Kids können zur Schule gehen. Ich fahre Doppelwochen-Schichten. Das heißt: zwei Wochen arbeiten, zwei frei. Das ist ganz okay und wir können gut davon leben. Ich bin nicht so anspruchsvoll, Hauptsache der Familie geht‘s gut.“
Aha, also gehörte Vernon zu den Wenigen, die nicht dauerhaft hier wohnten. Ondragon beschloss, die Entspannung als netten Nebeneffekt anzusehen und verlagerte sich darauf, Vernon geschickte Fragen zu stellen, um sich mehr Einblick in die Abläufe der Lodge zu verschaffen.
„Na klar kenne ich Jeremy Bates“, dröhnte Vernon wenig später, und Ondragon lächelte still in sich hinein. Wie die Leute doch zu reden begannen, wenn man auf die richtigen Knöpfe drückte. Der Matrosen-Masseur schien sogar richtig froh zu sein, ihm diese Geschichte präsentieren zu können. „Ich bin damals für Bates eingesprungen“, erzählte er munter weiter. „Deshalb habe ich auch den ganzen Wirbel um seine Entlassung mitbekommen.“
„Entlassung?“, fragte Ondragon.
„Oh ja, das war letzten Winter“, entfuhr es Vernon. Und während der Masseur so richtig in Fahrt kam, erfuhr Ondragon, dass Jeremy Bates in der gegenläufigen Schicht gearbeitet hatte, weshalb sich die beiden Männer zumeist nur bei den Wechseln begegnet waren. Manchmal sogar nicht mal dann. Nachdem Bates entlassen worden war, so erzählte Vernon, hatte er ihn nicht wiedergesehen. Angeblich wohnte er noch immer in Orr, aber keiner hätte so richtig Kontakt zu ihm gehabt.
„Weshalb musste er die Lodge denn verlassen?“
„Bates hat gegen die Regeln verstoßen. Er hat einem Gast das Auto hierher in den Wald gefahren und versteckt, damit dieser heimlich kleine
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