Ondragon - Menschenhunger
In Zeitlupe flog sie den verhassten Geschöpfen aus Papier entgegen und prallte mit dem Kopf zuerst an einen wackeligen Stapel Lexika. Diese raschelten empört auf und rutschen auf den Rand des Regals zu. Die Erdanziehungskraft griff nach ihnen und zog sie aus ihrem schützenden Hort. Nach Hilfe kreischend fielen sie zu Boden. Paul, die Augen weit geöffnet, verfolgte starr ihre Flugbahn. Kurz, bevor sie ihn trafen, sprang er zurück … und stieß hart gegen das Regal in seinem Rücken. Es gab ein gefährliches Seufzen von sich, und nach einer schrecklichen Sekunde des Schweigens kippte es nach vorn. Berge von gebundenem Papier stürzten auf ihn hinab wie eine Steinlawine, schlugen ihm die Stirn blutig und erstickten alles unter sich, was atmete. Paul öffnete den Mund und wollte schreien, doch da war nichts außer Papier und Staub.
Luft! Er brauchte Luft!
Er schluckte und schmeckte den widerlichen Geschmack der Bücher.
Dann hörte er seinen Schatten schreien!
Ondragon erwachte ruckartig aus der Hypnose. Er atmete heftig, und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Nach Orientierung suchend sah er sich um und blickte in die gelben Augen Dr. Arthurs.
„Ruhig, Paul, Sie sind wieder hier bei mir. Ihnen ist nichts passiert.“
Ondragon setzte sich auf und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Seine Hände zitterten.
Wow! Das also war die Hypnose gewesen. Er blickte Dr. Arthur an. „Und, wissen Sie jetzt, warum ich Angst vor Büchern habe?“
Der Psychotherapeut nickte bedächtig. „Ich denke, wir haben das Ereignis isoliert, das Ihre Angst ausgelöst hat. Als nächstes müssen wir daran arbeiten, die negativen Assoziationen, die Sie damit verknüpfen, zu beseitigen. Eine Sache war allerdings etwas merkwürdig.“
„Und welche?“ Ondragon fühlte sich noch immer wie von einem Güterzug überrollt. Leider konnte er sich nicht genau an alles erinnern, was während der Hypnose passiert war.
„Tja, es scheint, als seien Sie nicht alleine in der Bibliothek Ihres Vaters gewesen.“
Fragend sah Ondragon Dr. Arthur an.
„Da war noch jemand bei Ihnen.“
„Wer?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das werden wir in der nächsten Sitzung klären.“ Dr. Arthur erhob sich. „Wir sehen uns dann morgen wieder. Bis dahin erholen Sie sich, die Hypnose ist anstrengend für Geist und Körper, auch wenn Sie das nicht denken. Falls Sie irgendwelche Nachwirkungen spüren sollten, wenden sie sich an meine Mitarbeiter, sie sind damit vertraut.“
Ondragon verließ das Sitzungszimmer und begab sich in die Lounge. Gerne hätte er jetzt einen Whisky on the Rocks gekippt. Er brauchte dringend etwas Starkes. Doch die Golden Rules gaben in dieser Richtung nicht viel her, und so bestellte er sich beim Barkeeper einen doppelten Espresso. Der bittere Geschmack des Kaffees brachte ihn wieder zu klarem Verstand.
„Hey, Mann, was‘n los?“ Hatchet setzte sich neben ihn an die Bar, ganz der Lord of Darkness mit totengleicher Gesichtsfarbe und gruftschwarzer Sonnenbrille.
„Hypnose“, entgegnete Ondragon matt. Irgendwo in seinem Hinterkopf hallte es leise:
I’m easyyyy…
„Oh ja, das haut rein.“ Hatchet bestellte sich eine Coke.
„Kannst du wohl sagen. Und wie geht’s bei dir voran?“
Hatchet grinste, die Zähne weißer als Knochen. „Kann in ein paar Tagen ‘nen Abflug machen. Cool, was?“
„Absolut. Ich bin gerade mal meinen vierten Tag hier und bekomme schon einen Koller. Ich verstehe gar nicht, wie man es hier mehrere Wochen aushält, ohne tatsächlich verrückt zu werden. Ich glaube, wenn ich mit der Scheiße fertig bin, komme ich nie wieder!“ Er hob die Hand und ließ sie resigniert wieder sinken. Es war wirklich so. Er war bereits jetzt schon am Ende seiner Nerven, warum wusste er auch nicht. Reizklima oder was?
„Wahr, Mann“, stimmte ihm Hatchet zu, „einige von den kranken Spinnern kommen immer wieder hierher. Aber ich werde einen Teufel tun und noch einmal einen Fuß hier reinsetzen. Oh yeah, wenn ich hier weg bin, dann schmeiß ich erstmal ‘ne riesen Party mit Schnaps, Koks und Weibern! Das volle Programm. Hey, komm doch mal vorbei, wenn du hier raus bist, Paul. Mein Haus ist in Malibu, bist eingeladen. Hier ist meine Nummer.“ Er reichte ihm eine schwarze Visitenkarte mit einer weißen Axt und einer blutunterlaufenen Telefonnummer. Komisch, irgendwie hatte Ondragon gedacht, dass der Typ in Transsylvanien wohnte und nicht im sonnenverwöhnten Kalifornien. Er fragte sich, welchen
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