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Ondragon - Menschenhunger

Ondragon - Menschenhunger

Titel: Ondragon - Menschenhunger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Strohmeyer Anette
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allgegenwärtiger Wahnsinn aus Hupen, Geschrei und rasselnden Motoren. Kairo, die Stadt, die niemals schlief. Er gab den Städten gerne Namen. Ruhig betrachtete Paul den Raum, der sein Gefängnis war. Ringsum an den Wänden standen meterhohe Regale zum Bersten gefüllt mit Büchern, Büchern, und nochmals Büchern! Plötzlich wurde seine Kehle trocken. Auffordernd glotzten ihn die Buchrücken an. Paperbacks, Hardcover, Bildbände, Enzyklopädien, Lexika, Wörterbücher; rot, grün, blau, braun, in Leder oder Leinen gebunden und mit eingeprägten Lettern. Goethe, Schiller, Tolstoi, Kant. Hier und da Romane, aber nichts Triviales, das verabscheute sein Vater, nannte derartige Literatur „Fastfood für Ungebildete“!
    Paul würgte das Gefühl der schleichenden Angst herunter. Viele dieser Bücher kannte er gut, hatte sich immer wieder die Zeit mit ihnen vertrieben, wenn ihm das Warten auf das Öffnen der Tür zu lang wurde. Siegfried Ondragon hatte keine Hemmungen, ihn den ganzen Tag dort versauern zu lassen, selbst das Essen wurde ihm wie einem Gefangenen durch den Türschlitz gereicht. Seine Mutter legte oft ein gutes Wort für ihn ein, doch sein Vater setzte seine Strafen gnadenlos durch. Warum er heute hier saß, war klar. Er hatte sich nach der Schule wieder auf den Basar herumgetrieben und war nicht sofort nach Hause gekommen, wie sein Vater es angeordnet hatte. Er wollte nicht, dass sein Sohn sich mit dem schmutzigen Gesindel dort abgab, aber der große Khan el-Khalili Basar hatte eine magische Anziehungskraft auf kleine Jungen mit genügend Taschengeld, und deshalb zog es ihn immer wieder dorthin.
    Paul steckte seine Hand in die Hosentasche und zog den kleinen Gegenstand heraus, den er auf dem Basar erstanden hatte. Es war ein altägyptischer Horusfalke aus türkisfarbener Fayence. Paul liebte diese Figuren und wollte einmal Archäologe werden, wenn er groß war. Das Ägyptische Museum in Kairo war sein liebster Platz. Gerne ging er mit seiner Mutter dorthin, die gleichfalls fasziniert war von der versunkenen Welt der Pharaonen. Plötzlich registrierten seine Sinne die drohende Präsenz der Bücher und er hob den Kopf. Ächzend unter der tonnenschweren Last aus Staub und Papier starrten ihn die Regale an.
    „Du bist ein unartiger Junge!“, flüsterten sie böse vergnügt. „Und du wirst hier nie wieder herauskommen, bald wirst du uns gehören. Dann wird dir auch deine Mutter nicht mehr helfen können!“ Leise lachten sie. Es waren heimtückische Wesen, die Bücher. Sie verschlangen einen mit Haut und Haaren, wenn man sich zu sehr auf sie einließ, außerdem hielten sie allzeit böse Worte für ihn bereit. Geschichten über Krieg, Tod, Eifersucht und Gier. Und sie alle waren voller schlechter Menschen. Nur wenige unter den Büchern waren freundlich, so wie das Dschungelbuch von Kipling oder Niels Holgersson, vielleicht weil es darin hauptsächlich um Tiere ging. Paul trat einen Schritt von der hohen Bücherwand zurück und mit ihm sein Schatten. Ängstlich sah er hinauf. Sein Vater schleppte sie überall mit hin. An jeden Ort, an den sie zogen, kamen sie mit, wie ein riesenhaftes Untier aus Millionen von Worten, schwer wie Steine. Ein träges, teilnahmsloses Haustier, das er nur zu gerne loswerden wollte. Aber es war da! Immer! Und es verspottete ihn.
    „Ich hasse euch!“, zischte er den Büchern entgegen. Doch ein vielstimmiges Lachen war die Antwort. „Wir kriegen dich, Paul, früher oder später! Und auch den anderen!“
    „Welchen anderen?“, fragte er erstaunt.
    „Na, deinen Schatten! Hahahaha!“ Das kreischende Lachen klang unheilvoll, und Paul trat noch einen Schritt zurück.
    „Meinen Schatten?“ Er hörte, wie ängstlich und klein seine eigene Stimme klang. Warum kam sein Vater nicht und befreite ihn endlich aus der Bibliothek?
    „Hahahaha! Seht ihn euch an, den kleinen Paul, er pisst sich fast in die Hose! Dabei weiß er nicht, dass sein Vater uns beauftragt hat, ihn zu bestrafen.“ Mit einem Mal bewegten sich die Bücher, formten Fratzen und Gesichter, die lachten und ihn verhöhnten. „Paul, weißt du nicht, wie sehr dein Vater uns liebt? Er liebt uns mehr als dich! Wir sind sein Schatz, sein wertvollster Besitz!“
    Paul spürte, wie ihm die Tränen heiß über die Wangen liefen. „Hört auf!“, schrie er der lachenden Bücherwand entgegen. „Ich hasse euch!“ Er hob die kleine Falkenfigur, die er noch in seiner Hand hielt und schleuderte sie mit aller Kraft gegen die Bücher.

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