Ondragon - Menschenhunger
meisten Frauen fanden sie attraktiv, doch für ihn war sie viel zu spitz. Er sah damit aus wie ein altkluger Vogel. Doch die Nase verschärfte seine entschlossene und energische Ausstrahlung, die er in seinem Job benötigte, und deshalb hatte er sich mit ihr arrangiert. Seine Schultern und Arme unter dem taillierten, auberginefarbenen Hemd waren muskulös vom vielen Training, das er sich zur Entspannung gönnte. Krav Maga und Kendo. Aber auch manchmal eine Runde Streetball in Venice auf der Standpromenade - dem härtesten Basketballcourt der Welt.
Alles in allem wirkte er wie ein sympathischer Kerl Anfang Vierzig, erfolgreicher Unternehmer mit kleinen Spleens. Ganz normal eben. Was aber die Wenigsten wussten, und was er auch immer sorgsam zu verbergen suchte, war sein messerscharfer Intellekt, der ihn von normalen Menschen deutlich abgrenzte; besonders seine zwanghafte Besessenheit für analytische Gedankenspielchen. Die Zentrifuge nannte er es selbst, und er konnte nichts dagegen tun, wenn sie erst einmal lief. Egal, was er betrachtete, er musste es augenblicklich in seine molekularen Einzelteile zerlegen, musste die wahre Struktur dahinter erkennen, den geheimen Antrieb. Maschinen, Menschen, Politiker ... Probleme. Es war eine regelrechte Sucht, eine dunkle Wissenschaft, die nur schwer zu beherrschen war. Aber deswegen war er nicht hierher gekommen.
„Nein, Paul Eckbert, wir sind hier, um ehrlich zueinander zu sein“, sagte er laut. „Du siehst ganz schön beschissen aus, mein Lieber. Wenn ich dich nicht besser kennen würde, würde ich sagen, du hättest dringend Urlaub nötig. Urlaub von dir selbst.“ Er bleckte die weißen Zähne und streckte sich die Zunge raus. „Scheißkerl!“
Er spürte das in die Lodge geschmuggelte iPhone in seiner Hosentasche vibrieren. Das Display zeigte die Nummer seiner Assistentin an.
„Ja, Charlize, was gibt’s?“
„Oh, du hast Empfang!“
„Das wundert mich auch in dieser Einöde.“
„Paul, ich mache es kurz, wir haben eine Anfrage aus Japan hereinbekommen.“ Obwohl ihre Stimme einmal ins All und zurück geschossen wurde, vernahm er deutlich den tiefen, sinnlichen Klang. Eine plötzliche, beinahe schwermütige Sehnsucht überkam ihn.
„Yakuza?“, fragte er.
„Nein.“
„Dann lass Dietmar ran.“
„Der ist gerade in Dubai und unabkömmlich. Sheikh Al-Mazoum fordert seine volle Aufmerksamkeit.“
„Ach, Charlize, dann denk dir was aus. Ich kann jedenfalls nicht. Du weißt doch ...“ Tatsächlich war seine Assistentin die Einzige, die den Grund für seinen Aufenthalt in der Cedar Creek Lodge kannte. Und Ondragon fragte sich noch immer, ob es klug gewesen war, sie einzuweihen. Charlize war integer, keine Frage, und sie würde sich eher einen Finger abhacken, als Firmengeheimnisse auszuplaudern. Aber was dachte sie jetzt wohl von ihm? Wenn sie seinen Tick vorher nur für einen Spleen gehalten hatte, dann musste sie doch jetzt denken, er wäre völlig plemplem.
„Ist gut, Chef, ich kümmere mich darum, mein Japanisch ist sowieso besser als deins.“
Ondragon musste grinsen. Charlize Tanaka war wirklich ein Glücksgriff gewesen. Seit fünf Jahren assistierte ihm die zweiunddreißigjährige Brasilianerin mit japanischer Abstammung und war aus der Firma nicht mehr wegzudenken. Sie war Spitzenklasse im Recherchieren und eignete sich hervorragend für pikante Spezialaufträge, die nur eine Frau erledigen konnte. Sie war eine Femme fatale im fatalsten Sinne. Und Ondragon musste sich in ihrer Gegenwart ständig an seine eigene oberste Regel erinnern: Keinen Sex mit Angestellten.
„Wie ist es denn da so in der Einöde, Chef?“
„Bisher ... öde. Halte mich auf dem Laufenden, Charlize. Sayonara !“
„ Sayonara , Chef.“
Ondragon legte das Handy in die Nachttischschublade und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen, schwarzen Haare.
Es war paradox. Er verdiente sein Geld damit, anderer Leute Probleme zu lösen; äußerst diffizile Angelegenheiten, die häufig ungewöhnliche Maßnahmen erforderten. Er selbst war noch nie zimperlich gewesen, und seine brutale Genauigkeit und schonungslose, direkte Art hatten ihm bereits in den ersten Jahren seiner Tätigkeit einen unauslöschlichen Namen in der Welt dies- und jenseits der Legalität verschafft. Er fand immer eine Lösung, die seine Kunden zufrieden stellte. Probleme - das waren seine Leidenschaft, seine Magie. Ondragon stieß ein trockenes Lachen aus. „Nur mein eigenes Problem, das bekomme ich nicht in
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