Ondragon: Nullpunkt: Mystery-Thriller (German Edition)
hören, wie sie mit gefühlloser Stimme sagte: „Das ist unsere Chance, Siegfried!“
Siegfried Ondragon, der ebenfalls gänzlich ungerührt von der Szenerie zu sein schien, drehte ihr mechanisch wie eine Puppe den Kopf zu. „Ja, Ava“, antwortete er, „lass es uns tun!“
Danach verschwammen die Bilder vor Ondragons Augen und er wusste nicht, ob es echte Erinnerungen waren, oder ob sein Hirn ihn mal wieder betrog. Hatten seine Eltern damals tatsächlich so kalt reagiert? War seine Mutter wirklich so abgebrüht gewesen und hatte auf seinen toten Bruder hinabgestarrt, als habe er nie existiert? Ondragon konnte Per Gustavs zertrümmerten Kopf vor sich sehen, wie er da unter den Büchern begraben lag. Der Kopf eines zehnjährigen Jungen, der sein absolutes Ebenbild war. Es schien, als schaue er in den Spiegel, als läge er selbst dort. Plötzlich bewegte sich der Kopf und wandte ihm das Gesicht zu. Ein Lächeln erschien auf den blassen Lippen. Doch es war kein nettes Lächeln, sondern ein teuflisches, blutrotes Grinsen. Gepackt von Entsetzen sprang Ondragon auf und rannte zur Balkontür. Er riss sie auf und stürzte in die Nacht hinaus. Panisch sog er die stickige Tropenluft in seine Lungen, doch er verspürte keine Milderung, noch immer verlangte sein Körper nach Sauerstoff. Keuchend ging er in die Knie und schloss seine Augen.
Konzentrier dich! Einatmen, ausatmen. Nirgendwo sind Bücher! Hier ist genug Luft! Einatmen, ausatmen. Denk an das Meer dort draußen und den Himmel. Weit und klar!
Allmählich beruhigte sich sein asthmatisches Stöhnen und er bekam wieder Luft. Schweißüberströmt lehnte er sich gegen das Geländer und blickte hinaus auf das Meer. Es war dunkel, aber es war da. Weit und klar. Das blutige Grinsen von Per und der kalte Blick seiner Mutter, beides verschwamm in der Dunkelheit.
Nachdem er sich wieder gefangen hatte, wankte Ondragon zurück ins Zimmer und legte den Fotoapparat in den Safe. Den winzigen Chip versteckte er an einer losen Stelle hinter der Tapete. Wenn man nicht wusste, wo sie sich befand, war es unmöglich, ihn zu finden.
Schwerfällig wie ein angeschossener Bär tappte er anschließend durch den Raum. Er musste unbedingt einen klaren Kopf bekommen, sonst verpatzte er seinen Auftrag noch! Er begann, Kleidung und Ausrüstung für seinen nächtlichen Einsatz zusammenzusuchen und aufs Bett zu legen. Als er damit fertig war, setzte er sich an den Schreibtisch und schlug den Notizblock auf. Er würde noch einmal alles durchgehen, bevor er aufbrach. Außerdem wartete er noch immer auf eine Nachricht von Charlizes geheimnisvollem Kontakt. Angestrengt stierte er auf die Notizen, aber es wollte ihm nicht gelingen, sich auf das zu fokussieren, was vor ihm lag. Seine Unfähigkeit, ein Buch zu betrachten und sei es nur ein Foto davon, deprimierte ihn zutiefst. Nein, es war mehr als deprimierend. Es war niederschmetternd! Wie sollte er das jemals überwinden?
Du musst dich zwingen, dich daran zu erinnern, Paul! An das, was damals in der Bibliothek deines Vaters geschehen ist! Nur wenn du dich erinnerst, wirst du herausfinden, was wahr ist und was nicht. Finde den Schlüssel und suche das Schloss, in das er passt. Trau dich, die Tür zu öffnen und zu schauen, was dahinter ist. Dann wirst du deine Angst eines Tages überwinden können.
Ja, ja, aber nicht heute!, wandte er ein. Und auch nicht morgen! So, und jetzt lass mich endlich in Ruhe arbeiten!
Er lenkte seinen Blick auf den Lageplan des Labors, den er tags zuvor mit Charlizes Hilfe angefertigt hatte, nahm einen Bleistift und markierte den Weg, den er nehmen wollte. Wenn die Wachleute doch Wind von ihm bekommen sollten, würde er mit dem kleinen Boot abhauen, das außen an der Hafenmole lag.
Ungeduldig blickte Ondragon auf die Uhr. Schon nach Mitternacht. Charlizes Kontakt ließ sich mächtig Zeit. War wohl seine Art, dem Gringo zu zeigen, dass er in dieser Stadt das Sagen hatte. Ondragon versuchte, sich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, schob den Stuhl zurück und machte auf den kühlen Bodenfliesen ein paar Kraftübungen. Das weckte die Sinne und pumpte das Adrenalin auf den nötigen Pegel. Als er bei dem achtundvierzigsten Mountainclimber ankam, klopfte es an der Tür. Ondragon vollendete in aller Ruhe die Fünfzig, erhob sich und griff nach seiner Waffe.
„ Sim, por favor ?“, fragte er durch die Tür, was soviel hieß wie, ‚Ja, bitte?‘.
„Ihre Pizza, seu Ondragon. Salami und Anchovis mit Spezialsoße!“,
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