One: Die einzige Chance (German Edition)
verstanden, oder?«
»Ich glaub, er hat sich all die Jahre verstellt. Wenn ich zurückschaue, kann er sich nur verstellt haben. Zumindest ab dem Zeitpunkt, wo es mit seiner Karriere steil bergauf ging.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, als wir nach Singapur und später nach Peking gezogen sind, hat er sich verändert. Er hat kaum noch über seine Arbeit geredet. Viel lieber hat er über Musik gesprochen, Rockmusik oder Kunst. Diese Leute hat er bewundert. Zu seinem fünfzigsten Geburtstag wollte ihn meine Mutter überraschen und hat seine ehemaligen Bandkollegen eingeladen. Das ging total nach hinten los. Mein Vater wurde kreidebleich, als sich der Vorhang öffnete und dahinter die Jungs, seine Jungs gestanden haben …«
»Und was ist dann passiert?«, fragte Fabienne.
»Er ist wie in Trance auf die Bühne gegangen, hat sich ans Klavier gesetzt und den Song mit der Band zu Ende gespielt. Als dann die Gäste applaudiert haben, ist er in Tränen ausgebrochen. Ich hab ihn nie wieder so weinen gesehen wie an diesem Abend. Die nächsten Wochen ist er wie ein Geist gewesen. Er hat ja nie viel geredet, schon gar nicht über Gefühle, aber dieser Blick, dieser von allem und jedem angewiderte Blick, konnte einem richtig Angst machen. Wie ein Zombie. Ein lebender Toter.«
»Das passt doch alles zusammen.«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, dein Vater hat die falsche Abzweigung genommen. Er hat sich irgendwann dazu entschlossen, Karriere zu machen und bei dem großen Spiel um Macht und Geld einzusteigen. Obwohl er die Mechanismen besser kennt als sämtliche Wirtschaftsgurus, obwohl er wusste, dass der Einsatz nicht geringer sein würde als seine Ideale. Vielleicht hat er am Anfang wirklich gedacht, etwas von innen heraus ändern zu können. Das denken viele. Aber manchmal muss man sich eben für eine Seite entscheiden. Es gibt kein Dazwischen. Es gibt kein Maybe. «
»Und deshalb will ihn dieser Weinfeld umbringen? Weil er genau wie die anderen seine Ideale verkauft hat?«
»Im Augenblick fällt mir jedenfalls keine bessere Erklärung ein.« Sie bog auf einen Schotterparkplatz mit einem Gasthaus auf der linken Seite ab. Ein Licht brannte über dem Eingang. »Ab hier müssen wir laufen.«
»Ich will euch helfen«, murmelte Samuel so leise, dass es kaum zu hören war. »Mein Vater, wenn er … wenn wir ihn treffen, werde ich ihn davon überzeugen, dass er euch unterstützt.«
Fabienne lächelte. »Das ist nett. Aber das wird er nicht tun.«
»Wieso nicht?«
»Wie gesagt, wir haben nicht nur einmal versucht, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Aber egal, was wir gemacht haben, er hat abgeblockt. Er hat den Braten gerochen und alles getan, um uns aus dem Weg zu gehen.«
»Er hat euch aber auch nicht verraten.«
»Nein, das hat er nicht. Von Marietta wissen wir, dass sie bis vor sechs Jahren an ihrer Idee weitergearbeitet haben. Nicht alle aus dem Zirkel, aber zumindest dein Onkel, dein Vater und Marietta. Vermutlich dort, wo wir jetzt hingehen.«
»Warum hat euch Marietta die Pläne nicht gezeigt?«
»Sie durfte nicht. Sie wollte sich um jeden Preis an das Versprechen zur Verschwiegenheit halten, das sie der Gruppe gegeben hatte. Ihr waren sozusagen die Hände gebunden.«
»Aber warum sollte Weinfeld sie umbringen? Es war doch auch in seinem Sinn, dass sie euch hilft.«
»Wenn er nicht richtig zur Gruppe gehörte, dann hatte er vielleicht auch keinen Zugang zu den neueren Plänen. Vielleicht wollte er Marietta zur Herausgabe zwingen und sie hat sich geweigert oder wollte ihn verraten.«
»Und dann hat er sie getötet?«
Sie öffnete die Tür. »Ich weiß es nicht.«
Sechs
Wald | 22 Grad | Bewölkt
Kayan steuerte den Wagen weiter den Berg hinauf. Er fühlte sich stumpf und leer. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet. Er bemerkte nicht, wie er beschleunigte. Er hatte das Gesicht der Katze deutlich vor sich. Diese Augen … Kayan hasste die Menschen, die das Tier ausgesetzt hatten. Wahrscheinlich hatte es ein schönes Zuhause gehabt. Und jetzt, wo es seinen Zweck nicht mehr erfüllte und Ärger machte, wollte man es loswerden. Die Herzlosigkeit dieser Menschen machte ihn aggressiv. Plötzlich riss er erschrocken die Augen auf. Die Straße hatte sich zu einer engen Kurve zusammengezogen. Bevor das Auto in die dürren Leitplanken krachte, den Abhang hinunterstürzte und ihn mit all seinen falschen Träumen unter sich begrub, konnte er das Steuer herumreißen. Er bremste scharf ab und knallte gegen das Lenkrad. Ja, er
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