One: Die einzige Chance (German Edition)
Eigenleben entwickelten. Vincent schloss die Augen und atmete tief ein. Funktionier schon, du blöde Maschine! Als er die Augen wieder öffnete, spielte das Display immer noch verrückt und das erhoffte Wunder blieb aus. Es gab keinen Anrufbeantworter, auf den man hätte sprechen können. So viel zum Thema Fortschritt. Ein Anrufbeantworter sei zu gefährlich, hatte der Techniker gesagt und etwas von einem Trojaner gefaselt, der jede Silbe aufzeichnete, sobald er das System infiziert hatte. Nur Anrufer, die von der Software erkannt wurden, durften eine Nachricht hinterlassen. Die anderen flogen aus der Leitung, sollte Vincent nicht spätestens nach dem fünften Klingeln rangehen. Was er nicht tat. Das Klingeln hörte auf. Der Alarm in seinem Kopf verschwand und die Stille kehrte ins Haus zurück. Nur das Brummen des Aquariums war noch zu hören.
Vincent wandte sich dem leeren Blatt zu, das vor ihm lag. In einer Zeit, in der ein Großteil der Menschheit über Netzwerke kommunizierte, kam er sich beim Anblick des dicken elfenbeinfarbenen Papiers wie ein alter Narr vor. Er wollte einen Brief schreiben und hatte sich für den schwarzen Montblanc-Füller entschieden, mit dem er für gewöhnlich wichtige Verträge unterzeichnete, doch jetzt, da er zum ersten Wort ansetzte, begriff er, dass seine Wahl falsch gewesen war. Schließlich war dieser Brief an Samuel, seinen einzigen Sohn, gerichtet und nicht an einen x-beliebigen Geschäftspartner. Es ging nicht um Geld, nicht darum, Risiken zu minimieren, Gewinne zu steigern und die Kunden mit blühenden Zukunftsvisionen bei Laune zu halten. Es ging um ein Stück Wahrheit und es ging um … Er unterbrach sich. Er wollte das Wort nicht einmal denken. Es lag ihm auf der Zunge. Am liebsten hätte er es ausgespuckt, um es loszuwerden und für immer aus seinem Wortschatz zu verbannen. Seine Hände zitterten.
»Stell dich nicht so an«, ermahnte er sich flüsternd. »Das ist kein Abschied , du alter Trottel.«
Die Lincoln-Stretchlimousine schlängelte sich vom Peak hinunter in den Großstadtschlund von Hongkong Island. Bereit dazu, geschluckt zu werden, unterzutauchen im blinkenden Neonlichtermeer, das jeden willkommen hieß, der dafür bezahlen konnte.
Das Knistern und Knacken der Eiswürfel im Wodkaglas mischte sich mit dem Sound einer mittelmäßig begabten Indie-Pop-Band namens Circle Division [1] , die es als Zombie-Marionetten in die hiesigen Hitlisten geschafft hatte. Samuel Pinaz gähnte und drehte den Lautsprecher des Entertainmentsystems lauter. Er schenkte dem Lichtspiel der Megastadt und den Menschen, die sie wie Fischrogen zu gebären schien, keine Beachtung. Nicht mehr. Er hatte sich daran gewöhnt, wie man sich an alles gewöhnt, was man zu oft sieht. Der Geist stumpft ab. Die Augen melden dem Gehirn, dass es nichts Neues zu entdecken gibt, und schalten auf Stand-by. Samuel schmunzelte. Er dachte an eine Geschichte, die ihm seine Mutter erzählt hatte, als er noch ein kleines Kind war. »Die Erde dreht sich nur, solange die Menschen, die darauf gehen, dieselbe Richtung einschlagen. Sonst gäbe es weder Tag und Nacht noch Sommer und Winter, Glück und Freiheit.« Das hatte sie gesagt, als sie die ersten beiden Jahre in Peking verbrachten und Samuel mit dem militärischen Drill an der Schule nicht klargekommen war. Ein merkwürdiger Satz, den er bis heute nicht richtig verstanden hatte. Die beruhigende Wirkung, die diese Worte damals hätten haben sollen, war nutzlos verpufft. Und jetzt, in Anbetracht der dunklen Gestalten, die mit gehetztem Blick kreuz und quer durch die Straßen eilten, um sich von Rolltreppen und Fahrstühlen an ihren Bestimmungsort bringen zu lassen, kam der Satz ihm einfach nur falsch vor. Jeder hatte sein eigenes Ziel, jeder seinen eigenen Plan, wohin die Reise ging. Wieso sollte sein Glück von dem der anderen abhängen? Wieso die Freiheit? Sobald er in London war, würde er seine Mutter mit ihrer Weisheit konfrontieren. Sie liebte es zu diskutieren. Sie liebte es, alles und jeden zu hinterfragen.
Hongkong war anders als Peking. Nicht so dreckig, nicht so laut, nicht so überfüllt, aber auch irgendwie langweilig, unecht und geradlinig. Eine Kulisse, die sich nicht darum scherte, wer sie für seine Zwecke missbrauchte. Nach vier Jahren gab es kaum noch etwas, das Samuel an der Perle des Orients , wie es unpassenderweise in jedem Reiseführer stand, erstaunte. Selbst an die schwüle Hitze hatte er sich gewöhnt. Nur den Geruch nach Abwasser,
Weitere Kostenlose Bücher