One: Die einzige Chance (German Edition)
schon wieder«, sagte seine Mutter genervt.
»Oder Papa hat wieder daran rumgespielt. Der Techniker ist ja schon bald jede Woche bei uns, weil er irgendwo draufdrückt.« Samuel machte seinem Freund Zeichen, die Musik auszumachen. Der Wagen bog in eine enge, schmucklose Seitenstraße und von dort aus in eine noch engere Gasse, die dem Fahrer höchste Konzentration abverlangte. Hochhäuser mit klimatisierten Einzimmerapartments stachen neben ihnen in die tief hängenden Wolken. Durch die verdunkelten Scheiben der Limousine blickte Samuel in die Gesichter zweier Männer, die festgemeißelt wie Bronzestatuen vor einem halb zerfallenen Eingang standen. Ein Tourist wäre niemals auf die Idee gekommen, dass es hier zum neuesten Club der Stadt ging. Ein Feng-Shui-Meister hätte sich mit Sicherheit die Haare gerauft. Weder Geld noch Energie konnten hier zwischen Mülltonnen, Kartons und ausgemusterten Bürostühlen fließen.
»Du hast bei Papa angerufen?«, fragte Samuel verwundert. Die Seitentüren wurden aufgezogen. Fischgestank wehte herein. Ein großer Regenschirm verdeckte den Blick nach oben. Das Prasseln der Tropfen übertönte das Surren unzähliger Klimaanlagen. Samuel stieg als Letzter aus. Seine Schuhe klatschten in eine ölig schimmernde Pfütze und hinterließen keine Spur. Die beiden »Statuen« behielten ihre versteinerte Miene bei. Offensichtlich sollte man sich vor ihnen fürchten. Einer von ihnen zog einen Scanner aus der Innenseite seines Mantels. Vielleicht war es auch ein Elektroschocker. Manchmal verirrten sich Leute vor die Clubs, die sich die Adresse über teure Zwischenhändler besorgt hatten und nun auf die Bestechlichkeit des Sicherheitspersonals hofften. Ungebetene Gäste jedoch konnten froh sein, wenn sie ohne größere Blessuren davonkamen. Die Angst vor Überfällen oder gar Anschlägen war sehr groß. Deshalb musste man sich vorab registrieren. Perfektes Sicherheitsmanagement war das Aushängeschild der besten Clubs.
»Kommst du?«, fragte Kata.
Samuel hielt die Hand vor das Mikro. »Geht schon mal vor.« Er wandte sich erneut seiner Mutter zu. »Papa hat schon wieder versucht, mich davon abzuhalten, nach Deutschland zu fliegen. Er meint, ich soll warten, bis sich die Lage beruhigt hat. Wenn du mich fragst, ist das nur vorgeschoben. Er will einfach nicht kapieren, dass ich keine Lust mehr auf Hongkong hab.«
»Hat er sich wenigstens bei deiner Abschlussfeier blicken lassen?«
»Er kann doch die abgehobenen Leute nicht ausstehen.«
»Dazu sage ich jetzt mal nichts«, sagte sie, begleitet von einem tiefen Seufzer. »Ich bin froh, dass du das so locker nimmst. Schließlich war es dein großer Tag.« Sie machte eine Pause. Früher hatte sie seinem Vater hin und wieder den Kopf gewaschen, wenn er seine »asoziale« Seite herausgekehrt hatte und sich lieber zum Musikhören in seine Bibliothek verzog. Seit sie nicht mehr da war, verbrachte er dort jede freie Minute. »Tut mir leid, dass ich nicht dabei sein konnte«, sagte sie wehmütig. »Aber die Regeln für Sonderurlaube sind hier an der Uni abnormal streng.«
»Schon gut. Die vielen Reden über unsere blühende Zukunft hätten dir eh nicht gefallen.«
»Sollen wir auf Video umschalten?«
»Besser nicht.«
»Wo treibst du dich wieder rum?«
»Ist doch der letzte Abend.«
»Na gut.« Seine Mutter machte eine Pause. Sie hatte schon immer mehr Verständnis für ihn gehabt als sein Vater. Vielleicht lag es am Altersunterschied, schließlich war sie elf Jahre jünger. Vielleicht war das auch der Grund gewesen, weshalb sich seine Eltern getrennt hatten. Wäre Samuel damals nach London mitgekommen, hätte sein Vater bestimmt auch die Koffer gepackt. Aber er konnte nicht fortgehen. Nicht ohne Emilia, nicht ohne seine Nanny. Sie war immer für ihn da gewesen, hatte ihn getröstet, wenn seine Eltern unterwegs waren, und ihm vorgelesen, wenn er nicht schlafen wollte. Erst jetzt war er bereit zu diesem Schritt. Doch allein bei dem Gedanken, sich morgen von Emilia verabschieden zu müssen, wurde ihm übel.
Durch den Hörer drang die nölende Stimme eines Kindes. Samuel lächelte. Seine fünfjährige Stiefschwester hieß Mira. Wegen seiner bescheuerten Flugangst hatte er sie bisher nur über Skype gesehen. Für den morgigen Flug hatte er sich von Dr. Chen extra Beruhigungsmittel verschreiben lassen und sogar fünf Stunden auf der Couch eines seltsamen Psychologen verbracht, der ihm seine Angst mit getrockneten Echseneiern, Hypnose und anderem
Weitere Kostenlose Bücher