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One: Die einzige Chance (German Edition)

One: Die einzige Chance (German Edition)

Titel: One: Die einzige Chance (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias Elsäßer
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tagelang ziellos durch München gestreunt, nur um seinen Willen durchzusetzen und mit dem Rucksack ans andere Ende der Welt zu reisen. Hatte er das schon wieder vergessen? Ging es ihm wie den meisten Eltern, die irgendwann vergaßen, selbst einmal jung gewesen zu sein? War aus ihm ein alter engstirniger Kotzbrocken geworden? Hatte er vor lauter Zahlen-Hin-und-Herschieberei den Anschluss an die Wirklichkeit verpasst?
    Erneut setzte er den Füllhalter an. Er hatte den Eindruck, eine Unregelmäßigkeit im Zirpen der Grillen zu erkennen. Als hätten sie sich darauf verständigt, kurz innezuhalten. Lass dich ruhig ablenken, ermahnte er sich selbst und versuchte, mit dem ersten Satz zu beginnen, aber der erste Satz kam nicht. Eigentlich sollte der Brief ein Glückwunschschreiben für Samuel werden. Zum bestandenen Abitur. Aber nach allem, was die letzten Monate vorgefallen war, nach den vielen Streitereien, den ständigen Meinungsverschiedenheiten, den unausgesprochenen Vorwürfen, die in der Luft hingen wie der zähe Smog über der Stadt, wäre es gelogen, so zu tun, als sei alles in Ordnung. Und Lügen gehörten nicht in sein Privatleben.
    Badawi fing an zu schnurren. Wahrscheinlich spürte der Kater, dass Vincent wütend wurde. Auf sich selbst. Auf seine Unfähigkeit, ein guter Vater zu sein. Durch das gekippte Fenster drang das Rascheln der Blätter, dann ein Knacken. Welches Tier hatte sich dieses Mal in den Garten verirrt? Er stand auf, schob den geblähten Vorhang zur Seite und trat hinaus auf die Veranda, wo er sich eine Zigarette ansteckte. Dann spähte er in die Dunkelheit. Das Licht vom Arbeitszimmer flirrte über dem dicken Gras. Nichts. Vielleicht hatte sich der ungebetene Gast im Schatten des Geräteschuppens versteckt. Nachher würde Vincent den Sensor wieder einschalten. Zumindest die größeren Tiere ließen sich vom harten Flutlicht abschrecken.

    »Nimm den Wodka«, sagte der schwarzhaarige Junge, als sie vor einer Ampel anhielten. Samuel griff nach der Flasche Grey Goose, schraubte den Verschluss ab und prostete damit in die Kamera. Der Wagen fuhr an. Samuel schlug mit den Zähnen gegen die Flaschenöffnung. »Scheiße!« Er rieb sich mit dem Handrücken über den Mund. Sein Kumpel pochte gegen die Trennscheibe. Am Steuer saß ein gedrungener Mann mit Mütze, Anzug und zerschlissenen Radfahrer-Handschuhen.
    »Hey, kannst du vielleicht ein bisschen sanfter abbremsen!«, blaffte der Junge in holprigem Mandarin. Die Musik blendete aus. Der Chauffeur drehte sich um und entschuldigte sich auf Kantonesisch. Mit dem linken Arm versuchte er, den Bildschirm in der Mittelkonsole zu verdecken, über den gerade der Abspann einer Telenovela flimmerte. »Wegen diesem Soap-Müll bringt der uns beinahe um«, sagte der Junge. Samuel legte die Zigarre in den Aschenbecher und wischte sich den Mund ab. Er kontrollierte seine Zähne im beleuchteten Spiegel. Sie sahen makellos aus. Genau wie das leicht gebräunte Gesicht und die großen graublauen Augen. Die hatte ihm seine Mutter vererbt. Er versuchte, den Gedanken an den Streit mit seinem Vater zu verdrängen. Wieso hatte er immer ein schlechtes Gewissen, wenn er sich mit ihm gestritten hatte? Es war wirklich das Beste, von hier wegzuziehen. Er trank einen Schluck Wodka. »Nimm den Leuten ihre beknackten Telenovelas und sie gehen drauf.«
    Der Wagen bremste sanft ab. Der Fahrer stieg aus. Die Seitentüren öffneten sich. Zwei Beinpaare, die in eleganten High Heels verschwanden, schoben sich vor die Beleuchtung eines Schnellimbisses. Zwanzig Kilometer südlich, in Shenzhen, hätten die zierlichen Figuren der beiden Mädchen wahrscheinlich zu minderjährigen Konkubinen gehört, doch an diesem Abend trugen sie die hübschen Gesichter von Kata und Su. Samuel fand sie beide attraktiv. Die langen blonden Haare von Kata und ihr blasses Gesicht fielen selbst in Hongkong auf. Sie wirkte wie die Elfe aus einem Fantasyroman. Lieben, richtig lieben, konnte er sie trotzdem nicht. Irgendetwas fehlte. Eine Eigenschaft, die er nicht benennen konnte. Äußerlich jedenfalls gab es nichts auszusetzen. Sie waren ein Paar geworden. Einfach so, nach einer Party. Sie hatten sich geküsst und von überallher konnte man das Flüstern hören: »Die passen so gut zusammen. Die sind so ein hübsches Paar.«
    Samuel nahm Katas Hand, als sie neben ihm auf den Sitz glitt. Sie gab ihm einen Kuss. Er schmeckte den Champagner auf ihren Lippen. So hatte er sich seine erste Liebe nicht vorgestellt. Aber

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