One: Die einzige Chance (German Edition)
hatte bestimmt Millionen gekostet. Die dunkle Betonfassade wirkte abstoßend, menschenfeindlich und kalt. Diese Leute bauten sich ihr eigenes Gefängnis, um sich zu schützen. Idiotisch. Vor der Doppelgarage stand keine protzige Luxuskarosse, sondern ein aufpolierter Golfwagen mit Sonnendach. Im Internet hatte er gelesen, dass die Preise für solche Elektroautos nach Lieferengpässen in astronomische Höhen geklettert waren. Reiche Menschen leisteten sich saubere Luft und saubere Autos, sie starben später und gaben diese Privilegien an ihre Kinder weiter. Aber warum regte er sich darüber auf? Auch seine Kinder mussten sich keine Sorgen um ihre Zukunft machen. Er hatte vorgesorgt. Sie sollten später einmal studieren und einen ordentlichen Beruf ergreifen. Arzt, Anwalt oder Journalist, etwas in der Art geisterte ihm durch den Kopf. Eine bürgerliche Existenz, die Respekt und ein passables Auskommen garantierte. Deshalb schickte er seine Tochter auf eine renommierte Privatschule. Auch sein Sohn würde später dorthin gehen. Eine lohnende Investition, wie Kayan fand. Trotzdem sollten seine Kinder früh lernen, was es heißt, für Geld zu arbeiten. Überheblichkeit gegenüber Menschen, die am unteren Ende der Nahrungskette standen, würde er nicht dulden.
Zum Glück leisteten sich nur wenige Reiche eigenes Sicherheitspersonal. Sie glaubten an teure Überwachungssysteme, den Notfallknopf am Handgelenk und den Panic Room neben dem Schlafzimmer. Aber Technik konnte man immer auch manipulieren.
Das Handy in seiner Hosentasche vibrierte. Er sog lautstark Luft durch die Vorderzähne. Mist! Er hatte vergessen, Amélie eine SMS zu schreiben, dass er gut angekommen war. Seine sechsjährige Tochter machte sich mehr Gedanken als seine Frau, wenn er auf Geschäftsreise war. Schon jetzt sorgte sich sein kleiner Sonnenschein um Gott und die Welt. Vielleicht würde sie später auch etwas Soziales machen. Erzieherin, Altenpflegerin, Lehrerin oder so, überlegte Kayan, während er die sorgfältig angelegten Beete umging und sich der Terrasse näherte. Hauptsache, sie war glücklich. Für Machtkämpfe und dergleichen jedenfalls war sie nicht geschaffen. Zwei Tage hatte sie geweint, als ihre Katze von einem Lastwagen überrollt worden war. Unfassbar. Zwei Tage für ein Tier. Kayan wollte sich nicht ausmalen, wie lange sie um einen Menschen trauern würde.
Er drückte auf »Wahlwiederholung« und aktivierte das kleine Programm. Das Sicherheitssystem war mit dem Internet gekoppelt. Das war die Lücke, die er brauchte. Jetzt genügte ein Knopfdruck und er hatte freie Bahn.
Zwei
Hongkong | 22 Grad | Nieselregen
Das Telefon klingelte schon wieder. Was war heute nur los? Wochenlang hatte der Apparat keinen Mucks von sich gegeben und jetzt dieses Störfeuer mitten in der Nacht. Gleich morgen früh würde er den Techniker anrufen. Musste er die Software halt noch mal aufspielen. Der freundliche Asiate schien in seinem Job ja aufzugehen. »Scheißtelefonanlage!«, zischte Vincent in die Dunkelheit und kehrte nach drinnen zurück. Diesmal waren auf dem Display Ziffern zu erkennen. Die Vorwahl gehörte nach Deutschland, damit war seine Exfrau ausgeschlossen. Es dauerte einen Augenblick, dann hatte der Computer die Nummer mit den Telefonbucheinträgen dieser Welt abgeglichen und ein Name erschien, den Vincent stumm mit den Lippen formte, als gehörten die vier Silben in eine unbekannte Sprache. Ein kurzes Zögern und er ging ran.
»Ist deine Leitung sicher?«, fragte die Stimme.
»Was soll das?«, schnaubte Vincent in den Hörer. »Meldest du dich deshalb nach all den Jahren, nur um diesen blöden Witz zu machen? Oder willst du dich etwa entschuldigen?«
»Entschuldigen?« Ein kehliges Lachen drang durch die Leitung. »Ich soll mich auch noch dafür entschuldigen, dass ihr mich reingelegt habt? Das kann nicht dein Ernst sein.«
Vincent atmete tief durch. Er hatte wirklich Besseres zu tun, als sich mitten in der Nacht mit diesem Starrkopf Kaspar Weinfeld, einem alten Studienkollegen, zu streiten.
»Warum rufst du an? Woher hast du überhaupt diese Nummer?«
»Anna hat mir deine Geheimnummer gegeben. Keine Angst, ich werd sie nicht ins Netz stellen.«
Vincent zögerte. Er runzelte die Stirn. »Ihr … ihr habt noch Kontakt, du und Anna?«
»Wieder. Wir haben wieder Kontakt. Ich hab letzten Sommer eine ihrer Vorlesungen besucht. Aus ihr ist eine brillante Dozentin geworden. Bewundernswert, dass sie noch einmal einen beruflichen Neuanfang
Weitere Kostenlose Bücher