One: Die einzige Chance (German Edition)
Hokuspokus austreiben wollte.
»Bei uns haben sie gestern die halbe Stadt wegen einer Bombendrohung abgeriegelt. Angeblich von aufgebrachten Jugendlichen. An jeder Ecke stehen Polizisten und kontrollieren willkürlich Passanten«, sagte seine Mutter ernst. »Neulich haben Studenten die Hörsäle besetzt und den Dekan in seinem Büro eingeschlossen. Wenn du immer noch mit dem Gedanken spielst, hier zu studieren, solltest du vielleicht bis zum Bachelor an eine Privatuni gehen.«
»Aber …«, setzte Samuel an.
»Das willst du nicht, ich weiß«, unterbrach ihn seine Mutter seufzend. »Aber in öffentlichen Einrichtungen sparen sie an allen Ecken und Enden. Gibt nicht mal mehr genügend Bücher in den Bibliotheken. Und wenn sich diese Chaoten bei den Wahlen durchsetzen, will ich mir gar nicht ausmalen, wie das alles weitergeht. Mach dich am Flughafen auf lange Wartezeiten gefasst. Sie haben Angst vor weiteren Terroranschlägen. Und vergiss auf keinen Fall das Visum, sonst lassen sie dich nicht rein.«
»Hab ich schon eingepackt.«
»Wie ist es denn bei euch?«
»Hat sich alles wieder beruhigt. Papa glaubt nicht, dass Hongkong seinen Sonderstatus verlieren wird. Sonst würden die Investoren abziehen.«
»Vielleicht redet er sich das auch schön. Hier in den Nachrichten behaupten sie genau das Gegenteil. Und wie sieht’s in der Bay aus?«
»Alles beim Alten. Ist nur mehr Polizei unterwegs und es gibt neue Sicherheitsschleusen, weil neulich bei den Spencers eingebrochen wurde.«
»Ist ihnen was passiert?«, fragte seine Mutter erschrocken.
»Nein. Sie waren Golf spielen.«
»Auch noch bei Tag? Die schrecken wirklich vor nichts mehr zurück.«
Sogar der tiefe Seufzer seiner Mutter klang, als würde sie direkt vor ihm stehen. »Du musst deinen Vater verstehen. Er hat Angst, dich zu verlieren. Deshalb verhält er sich so bescheuert. Wahrscheinlich denkt er, dass du wegen ihm die Insel verlassen willst.«
»So ganz falsch wäre das ja nicht.«
»Er liebt dich. Aber er gehört eben nicht zu den Menschen, die das zeigen können. Das hat er nicht gelernt.« Mit diesem Satz hatte seine Mutter schon früher das merkwürdige Verhalten seines Vaters entschuldigt. Er ging nicht zu Elternabenden, kommentierte keine Schulnoten und spornte ihn auch sonst nicht dazu an, in irgendeinem Fach der Beste zu sein. Nur wenn Samuel am Flügel im Wohnzimmer saß und vor sich hin klimperte, leuchteten seine Augen, als sei irgendwo ein Wunder geschehen.
»Die ganze Zeit liegt er mir mit irgendwelchen fadenscheinigen Geschichten in den Ohren. Er hat mir sogar angeboten, ein Praktikum bei einem seiner Künstlerfreunde zu machen, um mich davon abzubringen, BWL zu studieren. Aber ich will das nicht.«
»Lass ihm Zeit. Bei dem Thema hat er seine eigene Sicht. Das ist schwer zu verstehen.«
»Du nimmst ihn in Schutz? Das ist ja mal was Neues.«
»Er macht sich Vorwürfe, weil er die letzten Jahre immer so viel unterwegs war. Jetzt fürchtet er sich davor, einsam zu sein. Apropos Einsamkeit. Hat er sich noch mal mit dieser Carla getroffen?«
»Fehlanzeige.«
Kata stand vor dem geöffneten Tor und signalisierte ihm ungeduldig, endlich zu kommen.
»Mama.« Jedes Mal, wenn er dieses Wort benutzte, fühlte er sich in der Zeit zurückversetzt. Vor seinem inneren Auge sah er einen kleinen Jungen, der quengelnd neben seiner Mutter stand und an die Hand genommen werden wollte. »Muss jetzt. Sorry.«
»Dann bis nächste Woche. Ich freue mich. Und wenn irgendetwas sein sollte, dann melde dich.« Sie flüsterte etwas Unverständliches neben den Hörer. »Da will noch jemand Hallo sagen.« Ein Rascheln. Mira war dran. Samuel musste schmunzeln. Die Stimme seiner Stiefschwester hörte sich an, als würde sie jeden Tag eine Schachtel Zigaretten rauchen.
»Bringst du mir ein Geschenk mit?«, fragte sie aufgeregt.
»Was wünschst du dir denn?«
»Einen Schmetterling. So einen mit Punkten, den man wie einen Drachen fliegen lassen kann. Aus ganz dünnem Papier.«
»Okay«, sagte Samuel lächelnd. »Mit Punkten. Aus ganz dünnem Papier. Ist notiert. Rot oder gelb?«
»Egal.«
Erneut das Rascheln. Seine Mutter übernahm wieder. »Richte Vincent liebe Grüße aus. Und sag ihm, dass auch er jederzeit bei uns willkommen ist. Ich weiß ohnehin nicht, was ihn in Hongkong hält, wenn du weg bist. Er könnte doch von überall aus arbeiten. Dazu müsste er nicht auf dieser Insel leben.«
Kayan näherte sich dem Haus von der Rückseite. Der klobige Bau
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