One: Die einzige Chance (German Edition)
dankbar, wenn Sie mit dem Scheißgehupe aufhören würden!«, brüllte Fabienne. »Sie sind nicht der Einzige, der von hier wegwill. Wie Sie sehen …«, sie machte eine ausladende Handbewegung, »… wird es wohl noch etwas dauern.«
Nach einem Moment der Sprachlosigkeit und einem misslungenen Hupversuch, der in einem kümmerlichen Ton endete, öffnete der Mann seinen breiten Mund. »Jetzt hör mir mal zu, du verwöhntes Gör.« Die Bassstimme war beeindruckend. »Wegen Leuten wie dir, die das Geld von Papa und Mama in den kleinen verwöhnten Arsch geblasen bekommen, stecken wir jetzt in der Scheiße fest. Solange du also noch am Tropf deiner Eltern hängst, solltest du den Mund nur aufreißen, wenn es dein Freund von dir verlangt.« Er blickte zu Samuel. Der sah das Unheil kommen, konnte es aber nicht verhindern. Fabienne riss den Wassereimer aus dem Ständer seitlich der Zapfsäule und kippte die dreckige Brühe durch das gekippte Fenster.
»Hier, du Fettsack, damit deine Hormone wieder abkühlen.« Fabienne machte auf dem Absatz kehrt, hinter ihr flog die Wagentür auf und der Typ stieg mit triefendem T-Shirt aus. Samuel fragte sich, wie dieser Koloss überhaupt in den Kleinwagen gepasst hatte.
»Du beschissene Schlampe!«, brüllte er mit bebender Stimme. Ein Junge filmte die Szene mit seinem Handy. Fabienne ging in provozierend langsamen Schritten zurück zum Wagen. Samuel konnte nicht zulassen, dass dieser Bär sie hinterrücks erwischte. Er stellte sich dazwischen und erinnerte sich an seine erste Rugbystunde in Hongkong, als ihn der Trainer in der Defense gegen einen bulligen Oberstufenschüler hatte antreten lassen. Der Aufprall ihrer beiden Körper war wie eine Explosion gewesen. Nur mit dem Unterschied, dass er damals auf weichem Rasen gelandet war und nicht mit dem Kopf gegen eine Zapfsäule knallte, um von seinem Gegner anschließend noch einen Fußtritt ins Gesicht zu kassieren. Der metallische Geschmack von frischem Blut war etwas, das er nur vom Zahnarzt kannte. Während er stöhnend auf dem Boden kauerte und kurz davorstand, ohnmächtig zu werden, sah er aus dem Augenwinkel, wie sich Fabienne im Wagen verschanzte. Doch der Typ kam jetzt erst richtig in Fahrt. Er pflückte den Wischer vom Boden auf und bearbeitete mit der Stahlkante zuerst die Motorhaube und dann die Windschutzscheibe. Glas splitterte. Als Nächstes riss er die Seitenspiegel ab und kickte gegen die Seitenverkleidung. Keiner kam ihnen zu Hilfe. Die Leute blieben in ihren Autos hocken und verfolgten den zerstörerischen Feldzug, als hätten sie beim Zappen einen neuen Kanal entdeckt. Kaum war der Koloss wieder in sein Auto eingestiegen, drückte er erneut auf die Hupe, brach mit quietschenden Reifen durch eine Lücke, die sich neben ihm aufgetan hatte, und schlängelte sich hupend aus der Tankstelle.
Fünfzehn
Berlin | 22 Grad | Nieselregen
Der Geruch der Tankstellentoilette war widerlich. Obwohl Samuel pochende Schmerzen hatte, konnte er den zähen Gestank nach Pisse nicht ausblenden. Die verdreckte Klobürste mit dem abgebrochenen Stiel erledigte den Rest.
»Stillhalten«, befahl Fabienne, beugte sich über ihn und tupfte die Platzwunde an seiner Stirn mit Klopapier ab. »Ich glaub, das muss genäht werden.«
»Wird schon nicht so schlimm sein«, sagte Samuel, stieß mit seiner Zunge gegen einen Vorderzahn und erschrak: Er wackelte!
»Anzeigen müsste man diesen Wichser. Solche Leute gehören in die Klapse. Die haben diese ganze Klassenscheiße so verinnerlicht, dass sie sich wieder wie Steinzeitmenschen verhalten.« Sie griff ihm unter die Achseln. »Wir müssen ins Krankenhaus. Ein Pflaster hilft da nicht. Wenn da was reinkommt, kriegst du ’ne Sepsis.«
»Eine was?«
»Blutvergiftung.«
»Bist wohl vom Fach.«
»Hab meinem Vater ab und zu in der Praxis geholfen.«
»Also doch nicht Unterschicht«, sagte Samuel.
»Er ist Tierarzt. Aber die Unterschiede zum Menschen sind ja nicht allzu groß. Jede Spezies kämpft ums Überleben.«
Samuel hatte Mühe aufzustehen. Die Welt drehte sich. Zielsicher fand seine Zunge den lockeren Zahn und schob ihn vor und zurück. Dieses Vergnügen hatte er das letzte Mal in der Grundschule gehabt. Doch diesmal würde ihm die Zahnfee keine sprechende Darth-Vader-Figur unter das Kopfkissen legen. Aus irgendeinem Grund – wahrscheinlich hatte sein Körper den hauseigenen Drogenschrank geöffnet – amüsierte ihn die Vorstellung, seiner Mutter mit einer Zahnlücke gegenüberzutreten. Sie
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