Oneiros: Tödlicher Fluch
die Leichenstarre zu lösen. Als sich der Kiefer bewegen und der Mund öffnen ließ, streute er vorsichtig ein Pulver in Mund und Nase des Toten. »Wissen Sie, was ich eben gemacht habe?« Absichtlich hielt er das Etikett der Dose zu.
»Das müsste Ardol sein. Ein geruchs- und feuchtigkeitsbindendes Puder, das sich zu einer Masse verfestigt, sobald es mit Flüssigkeit in Berührung kommt. Man sichert üblicherweise noch mit Wattestücken ab, um zu verhindern, dass Körperflüssigkeit ausläuft. Oder Knetwachs, das tut es auch.« Jaroslaf hielt noch immer das Bild in die Höhe. »Übrigens hat das mein vorangegangener Chef nicht gemacht. Das meinte ich mit nachlässig.«
»Sie wissen schon sehr viel. Respekt. Geben Sie mir die Eye Caps und die Creme vom Tischchen, bitte.«
Jaroslaf reichte ihm die halbrunden, glatten Halbschalen sowie die kleine Tube.
»Danke.« Konstantin trug die Haftsubstanz auf, setzte die Caps auf die Augen des Toten und verschloss Gerd Pamuks Lider, damit sie sich nicht während des Defilés öffneten. Einen solchen Schock galt es für Besucher und Angehörige zu vermeiden. »Sie können wieder nach oben gehen und Frau Kawatzki ausrichten, dass Sie die Stelle auf Probe haben, Herr Schmolke. Solange Sie mit mir an den Verstorbenen arbeiten, dürfen Sie die Ohrringe und den Kajal weiter tragen, aber sobald es um Kundenkontakt geht, müssen Sie leider etwas mainstreamiger auftreten.«
»Selbstverständlich, Herr Korff!« Jaroslaf strahlte. »Darf ich Ihnen noch zuschauen, bis Sie Ihre Arbeit beendet haben?«
Bei den meisten anderen Bewerbern hätte Konstantin vermutet, sie wollten sich einschleimen. Nicht bei Jaroslaf. Er zeigte echte Begeisterung für den Beruf, für das Handwerk, für den letzten Dienst an den Toten.
Das hat man selten.
»Sie dürfen. Legen Sie das Bild weg, und schieben Sie bitte den hellen Sarg herein.«
»Geben wir Ardol hinein?«
»Nein. In der kurzen Zeit werden keine Flüssigkeiten austreten. Auf das Ausstreuen des Bodens können wir daher verzichten.«
Jaroslaf eilte hinaus.
Er denkt wirklich mit.
Währenddessen vernähte Konstantin mit einer gebogenen Nadel Gaumen, Lippen und Kinn durch die Mundhöhle, damit sich die Kiefer später nicht wie zu einem Schrei öffneten. Die Ligatur, wie dieser Vorgang genannt wurde. Keine leichte Arbeit, weil Konstantin ein besonderes Verfahren benutzte. Er zog den Faden durch die Scheidewand der Nase, vor den oberen Schneidezähnen entlang und um den Unterkiefer unterhalb der Haut, bevor er die Enden verknotete. Die Lippen selbst wurden nicht vernäht. Da die Zahnprothese locker saß, schob er sicherheitshalber einen Mundformer aus gebogenem Plastik hinter die Lippen und bestrich sie dann mit leicht rosagefärbter Vaseline.
Fertig.
Zwischendurch war Jaroslaf zurückgekehrt und hatte ihn stumm beobachtet, sog jeden Handgriff auf und assistierte, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Aber als er zur Schere griff und den schönen grauen Anzug, den Pamuk bestimmt nur sonntags getragen hatte, aufschneiden wollte, griff Konstantin ein.
»Was haben Sie denn vor?«
»Aufschneiden, damit wir die Sachen ganz einfach überstreifen können. Hat mein Chef so gemacht.« Er legte die Schere weg. »Dachte mir schon, dass das nicht gut ist.«
»Wenn Sie mich fragen, macht so etwas kein seriöser Bestatter! Kleidung wird ordnungsgemäß angezogen und nicht aufgeschnitten«, erklärte Konstantin seine Einstellung. »Sollte es vorkommen, dass Kleidung nicht passt, bitte ich die Angehörigen, andere Kleidung vorbeizubringen.« Er nickte Jaroslaf zu. »Merken Sie sich das.«
Sie kleideten den Toten an, und gemeinsam hoben sie ihn in den vorbereiteten Sarg.
Konstantin bettete den Kopf auf ein Kissen, bedeckte die Beine mit einer weißen Decke und massierte die steifen Totenfinger biegsam, damit er die Hände wie zum Gebet falten konnte. »Gute Arbeit«, entließ er Jaroslaf schließlich. »Schürze aus, Handschuhe und Überzieher wegwerfen, Hände desinfizieren und hoch zu Frau Kawatzki. Die Probezeit hat hiermit begonnen. Ab Montag immer um neun Uhr zur Besprechung.«
»Danke, Herr Korff!« Der junge Mann tat wie geheißen und verschwand in die Umkleide, aus der gleich darauf ein unterdrückter Freudenschrei drang.
Endlich einer, der was taugt. Auf die Gruftis ist Verlass.
Konstantin grinste und stäubte Kosmetikpuder mit Hilfe eines großen Pinsels über das Gesicht des Toten, die letzte Tätigkeit, bevor er den Sarg hinaus in
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