Oneiros: Tödlicher Fluch
meiner in Trümmern liegenden Welt wenigstens diesen Hoffnungsschimmer!
Ergebenst und voller abgrundtiefer Trauer
Erneste Xavier de Girardin
Im Anhang der E-Mail befand sich ein Bild von einer jungen Frau, die fröhlich in die Kamera lachte: Lilou.
Die langen braunen Haare wehten im Wind, die blauen Augen blitzten fröhlich, als würde sie sich über eine Nachricht aus vollem Herzen freuen. Um ihren Hals lag eine Kette mit einem wundervollen Edelstein, der in der Sonne glitzerte. Die Aufnahme schien auf einem Boot gemacht worden zu sein, im Hintergrund sah Konstantin die weißen Dreiecke von Segeln und einen blauen Himmel, wie es ihn nur am Meer gab.
Anmut, Lebensfreude, Eleganz.
Diese Worte huschten durch seinen Kopf. Er schluckte und trank den
Red Russian
auf Ex aus.
Da hat sich der Tod ein hübsches Opfer gesucht.
Deswegen fühlte Konstantin jedoch nicht mehr Mitleid als sonst. Das bewahrte er sich für gestorbene Kinder auf, vor allem solche, die durch einen plötzlichen Unfall starben. Auch Selbstmörder rührten ihn an, weil sie so verzweifelt gewesen waren, dass sie dem Tod freiwillig auf die Schippe sprangen.
Doch Lilou, das spürte er, hatte etwas Besonderes umgeben, das nur wenige Menschen ihr Eigen nannten.
Und da kam seine thanatologische Kunst ins Spiel: Er musste der Toten diese Besonderheit zurückgeben. Für ein paar Stunden, für einen Gottesdienst, bis sich der Sargdeckel schloss und die Zersetzung letztlich doch über die Chemie siegte. Dabei spielte weniger das Geld eine Rolle, als die Herausforderung.
Konstantin goss einhändig Wodka und Kirschlikör in sein Glas, während er die Nummer von Caràra eingab. Klirrend landeten just die Eiswürfel darin, als sein Anruf entgegengenommen wurde, so dass er den Namen des Mannes nicht verstand. »Bonjour, Monsieur Caràra«, sagte er und verfiel ins Französische. »Hier spricht Korff.«
»Ich freue mich, von Ihnen zu hören, Monsieur Korff. Darf ich annehmen, dass ich Monsieur le Marquis einen positiven Bescheid überbringen kann?« Caràra sprach mit Akzent, allerdings geschliffen und sehr deutlich. Kein Vergleich zu Konstantins Gossenfranzösisch.
Er war kurz überrascht.
Marquis? Ich hätte den Namen Girardin im Internet prüfen sollen.
»Das dürfen Sie, Monsieur Caràra. Spätestens morgen Mittag sollte ich in Paris sein.«
»Ich würde Ihnen empfehlen, mit dem Flugzeug nach Saarbrücken zu fliegen und den Rest der Strecke mit dem TGV zurückzulegen. Nach dem Unfall ist der Flughafen Paris-Charles de Gaulle vorerst geschlossen, und die übrigen sind hoffnungslos überlastet.«
»Danke für den Hinweis.« Konstantin fügte dem Cocktail noch einige Minzblättchen hinzu, schwenkte sein Glas, um Likör und Wodka zu mischen, und nippte daran. »Monsieur Caràra, ich hoffe, mit Ihnen kann ich offen sprechen, auch wenn es unschön ist? Ich bräuchte noch ein paar Einzelheiten zur Schwere der Verletzungen von Lilou de Girardin. Gibt es Fotos?«
»Nein, Monsieur. Der Marquis hat sich dagegen verwehrt. Ich kann Ihnen nur einen Obduktionsbericht anbieten.«
Er verzog das Gesicht.
Obduktion
und
Unfall
verhießen nichts Gutes für die Rekonstruktion. Es wunderte ihn nicht, dass man nach ihm verlangte. »Tun Sie das bitte, Monsieur Caràra. Ich schicke Ihnen gleich eine Liste von persönlichen Dingen, die ich benötige, damit ich Demoiselle Lilou für die Aufbahrung entsprechend herrichten kann.«
»Was meinen Sie damit, Monsieur?«
»Lieblingskleid, Parfüm, Accessoires. Um das zu betonen, was sie ausgemacht hat. Zumindest das Äußerliche.«
»Selbstverständlich, Monsieur Korff. Es wäre hilfreich, wenn Sie mir außerdem eine Liste mit Materialien schickten, die Sie brauchen, um die Rekonstruktion durchzuführen. Ich lasse Ihnen eine Suite im
Hôtel de Vendôme
reservieren. Es liegt sehr schön und bietet formidablen Service. Sobald Sie angekommen sind, rufen Sie mich an. Ich hole Sie ab und bringe Sie … an den Ort.«
Konstantin hob die linke Braue. »
Den Ort?
Monsieur Caràra, das ist ein wenig unpräzise.«
Es war dem Privatsekretär unangenehm, darüber zu sprechen, wie der Tonfall verriet. »Monsieur, Sie können das vermutlich nicht wissen, aber die Familie Girardin ist sehr bekannt in Frankreich. Um zu vermeiden, dass die Presse Demoiselle Lilous sterbliche Überreste findet, muss ich darauf bestehen, die Lage des Ortes geheim zu halten, wo sie … aufbewahrt wird. Nicht auszudenken, wenn ein Foto des unbehandelten
Weitere Kostenlose Bücher