Oneiros: Tödlicher Fluch
den Gang rollte. Dann ging er zurück in den Raum, reinigte das Arbeitsgerät und stellte alles wieder an seinen Platz zurück.
Nachdem er sich umgezogen hatte, fuhr er Gerd Pamuk in Trauersaal eins, schuf mit Kerzen und leiser klassischer Musik ein Ambiente, in dem die Verwandten Abschied nehmen und sich dem Verlustschmerz hingeben konnten. In aller Privatheit.
Er mochte den Spruch, den sich der Tote zu seinen Lebzeiten für seinen Grabstein ausgesucht hatte:
Wenn die Blätter fallen,
wirst du zum Kirchhof kommen,
mein Kreuz zu suchen.
In einer kleinen Ecke
wirst du es finden.
Und dort werden
viele Blumen wachsen.
Obwohl er als Bestatter schon viele Zitate zu Gesicht bekommen hatte, geschmacklose und geschmackvolle, hörte er die Zeilen von Lorenzo Stecchetti zum ersten Mal. Ihm gefiel die Kombination aus Abschied und Aufmunterung.
Konstantin kehrte zu Mendy zurück, die sehr fröhlich wirkte. »Was ist denn mit Ihnen los?«
»Sie haben den jungen Mann eingestellt«, rief sie überschwenglich. »Das finde ich so toll!«
»Er ist gut, egal, was er anzieht und welchen Schmuck er trägt. Ich wäre ein schlechter Chef, wenn ich das nicht erkennen und honorieren würde. Und noch muss er die Probezeit durchstehen.« Er ließ sich von ihr das schwarze Sakko geben, das in einem Garderobenschränkchen hing, und warf es über das Polohemd.
Die Trauernden würden in einer Stunde eintreffen, und Konstantin hielt sich an das, was er Jaroslaf gesagt hatte: gegenüber den Kunden zu jeder Zeit professionell aussehen. Das Jackett verbarg die eintätowierten Schriftzeichen auf der Innenseite seines rechten Unterarms. Er trug den mahnenden Satz seit einundzwanzig Jahren in seiner Haut, und die Buchstaben hatten ihn in mancher harten Stunde vor einem Fehler bewahrt. Einem Fehler, der Unschuldigen das Leben gekostet hätte.
Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigte, dass er in dieser Aufmachung vor die Hinterbliebenen treten durfte. Das schwarze Sakko betonte seine sportliche Figur nicht zu sehr. »Die Pamuks kommen bald, es ist alles vorbereitet. Ist der Papierkram fertig?«
»Ja, natürlich.« Mendy schien sich immer noch über den neuen Azubi zu freuen. »Ah, bevor ich das vergesse:
Ars Moriendi
hat eine Anfrage für einen dringenden Auslandseinsatz erhalten. Kam via E-Mail.«
»Wo?«
»Paris. Am besten sofort, hieß es.«
Konstantin überlegte. Er musste übermorgen nach Moskau. Für einen Abstecher in die französische Hauptstadt blieb kaum genug Zeit.
Schade.
»Schicken Sie …«
Mendy schüttelte den blonden Schopf. »Sie wurden ausdrücklich verlangt: der beste Thanatologe Europas.« Sie wollte ihm den Ausdruck reichen, als Stimmen an der Eingangstür erklangen. Gerd Pamuks Angehörige.
»Leiten Sie mir die Mail weiter«, sagte er leise und ging den Menschen entgegen, die unsicher ins Foyer des
Ars Moriendi
traten, um sie zu empfangen und ihnen die Scheu zu nehmen. Vor dem Tod des geliebten Opas, Vaters, Freundes und vor dem Gedanken an die eigene Sterblichkeit.
Cospudener See, Leipzig, Deutschland
Konstantin saß auf dem Oberdeck der
Vanitas,
seinem Hausboot, und genoss die letzten Sonnenstrahlen des wundervollen Tages, die auf der Oberfläche des Cospudener Sees glitzerten.
Er war nach der Arbeit noch im Gewandhaus gewesen, hatte die öffentlichen Proben für das Konzert von Felix Mendelssohn Bartholdys 5 . Sinfonie in d-Moll, der sogenannten »Reformations-Sinfonie«, gehört und die adrette, blonde Cellistin bewundert, wie er es seit einem Jahr tat.
Und sie hatte ihm zugelächelt. Wie sie es seit einem Jahr tat.
Es war ein Ritual zwischen den beiden, das ein unglaublich festes, unausgesprochenes Band zwischen ihnen bildete. Ein Paar, solange sie im Gewandhaus saßen. Er dort unten, sie da oben.
Mehr passierte nicht zwischen ihnen, auch wenn es Konstantin gefallen hätte, und der Cellistin vermutlich auch. Sie hieß Iva Ledwon, war fünfundzwanzig, hatte Cello studiert und kam aus Stralsund, wie er in ihrer Vita im Internet gelesen hatte.
Er wagte es nicht, den Kontakt zu vertiefen, weil er keine Lust auf Geheimnistuerei hatte.
Weil die Gefahr für sie einfach zu groß war …
In Sachen unerfüllter Liebe kannte Konstantin sich bestens aus, und in Sachen Dramatik war er bis an sein Lebensende restlos bedient. Daher gab er sich mit den Gedanken an Iva Ledwon und den Träumen an eine schöne Zeit mit ihr in einem anderen Leben zufrieden.
Vielleicht sollte ich die Besuche im Gewandhaus ganz
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