Onkel Toms Hütte
würde. So friedlich wie das Licht der sinkenden Sonne, so süß wie die Stille des Herbstes lebte sie in dieser Gewißheit.
Denn trotz aller zärtlichen Pflege, trotz allen Glanzes an Liebe und Reichtum, mit dem das Leben ihr winkte, empfand das Kind kein Bedauern, daß es sterben mußte.
In jenem Buch, das sie mit ihrem bescheidenen alten Freunde gelesen, hatte sie das Bild dessen gesehen, der sich ihr ins Herz geprägt, der die Kinder liebt. Wohl trauerte ihr Herz um alle, die sie zurückließ – am meisten um ihren Vater; denn Eva hatte, wenn sie es auch nie deutlich aussprach, instinktiv das Gefühl, daß sie seinem Herzen am nächsten stand. Sie liebte ihre Mutter, weil sie ein liebebedürftiges Herz hatte; was sie von deren Selbstsucht erkannte, vermochte sie nur zu betrüben; denn sie besaß das unbedingte Vertrauen eines Kindes, das glaubt, eine Mutter begehe kein Unrecht. Sie hatte wohl manches an sich, was Eva sich nicht erklären konnte, aber darüber ging sie rasch hinweg, denn sie hatte ihre Mutter herzlich lieb.
Sie trauerte auch um die treuen, freundlichen Dienstboten. Für gewöhnlich verallgemeinern Kinder nicht, aber Eva war ein ungewöhnlich reifes Kind; alles, was sie von dem bösen System mitangesehen hatte, unter dem sie lebte, war tief in ihr nachdenkliches, grübelndes Herz gesunken. Sie war von einer unbestimmten Sehnsucht erfüllt, etwas für sie zu tun, sie alle aus ihrer verzweifelten Lage zu retten – eine Sehnsucht, die zu der Schwäche ihrer kleinen Person in traurigem Gegensatz stand.
»Onkel Tom«, sagte sie eines Tages, »ich kann verstehen, warum Herr Jesus für uns sterben wollte.«
»Warum denn, Fräulein Eva?«
»Weil ich es auch wollte.«
»Wieso, Fräulein Eva? Ich verstehe nicht – «
»Ich kann es nicht erklären; aber damals, als ich die armen Leute auf dem Schiff sah, weißt du, da hatten einige ihre Mütter und Männer verloren, und ein paar Mütter weinten um ihre kleinen Kinder; – und seitdem noch viele Male hab ich mir gewünscht, sterben zu dürfen, wenn mein Sterben allem ein Ende machen würde. Wenn ich könnte, Tom, würde ich für sie sterben«, sagte das Kind ernsthaft und legte ihre kleine Hand auf seine dunkle.
Tom betrachtete das Kind voll ehrfürchtiger Scheu, und als sie, der Stimme ihres Vaters folgend, davonhuschte, wischte er wiederholt die Augen, während er ihr nachsah.
»Es hat keinen Zweck, Fräulein Eva aufzuhalten«, sagte er später zu Mammy. »Sie trägt des Herrn Siegel auf der Stirn.«
»O ja!« erwiderte Mammy, beide Arme hochhebend. »Ich habe es immer gesagt, sie ist kein Kind fürs Leben – kleines geliebtes Lamm!«
Eva sprang die Verandastufen zu ihrem Vater hinauf. Es war am späten Nachmittag, und während sie in ihrem weißen Kleidchen, mit ihrem goldenen Haar, den glühenden Wangen und den unnatürlich strahlenden Augen näherkam, schienen die Sonnenstrahlen sie mit einem Glorienschein zu umgeben.
St. Clare hatte sie gerufen, um ihr eine kleine Porzellanfigur zu zeigen, die er für sie gekauft; aber ihr Anblick ging ihm plötzlich schmerzlich zu Herzen. Es gibt eine Schönheit, so zart und beinahe überirdisch, daß wir sie nicht ertragen. Ihr Vater schloß sie jäh in die Arme und vergaß darüber fast, was er ihr zeigen wollte.
»Eva, mein Herzblatt, es geht dir doch jetzt besser, nicht wahr?«
»Papa«, sprach Eva mit plötzlicher Festigkeit, »ich wollte dir schon lange etwas sagen. Ich möchte es jetzt sagen, bevor ich schwächer werde.«
St. Clare befiel ein Zittern, als Eva sich auf seinen Schoß setzte. Sie barg ihren Kopf an seiner Brust und sagte:
»Es hat keinen Zweck, daß ich es noch länger für mich behalte. Die Zeit kommt heran, wo ich dich verlassen muß. Ich werde dich verlassen und niemals wiederkehren«, und Eva schluchzte.
»Aber nicht doch, mein Kind«, sagte St. Clare, noch immer zitternd, aber mit heiterem Ton, »du bist überreizt und niedergeschlagen. Du darfst solchen trüben Gedanken nicht nachhängen. Sieh doch einmal, ich habe dir hier eine kleine Figur gekauft.«
»Nein, Papa«, sagte sie, die Figur beiseite schiebend, »betrüge dich nicht selbst. Mir geht es nicht besser – ich weiß das ganz genau; ich werde dich verlassen. Ich bin nicht überreizt, auch nicht niedergeschlagen. Wenn du nicht wärst, Papa, und meine Freunde, wäre ich sehr glücklich. Ich will sterben, ich sehne mich danach.«
»Liebes Kind, was machst du dir dein Herz so schwer? Hast du nicht alles, was dich
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