Onkel Toms Hütte
aufnahm, kehrte die Frau zu ihrem alten Platz zurück. Dort saß der Händler – das Kind war verschwunden!
»Warum, warum – wohin?« stammelte sie in bestürzter Überraschung.
»Lucy«, sagte der Händler, »dein Kind ist fort, du magst es nur gleich erfahren. Siehst du, du konntest es nicht mit in den Süden nehmen, und ich hatte Gelegenheit, es an eine erstklassige Familie zu verkaufen, die wird es besser aufziehen, als du es kannst!«
Die Frau schrie nicht, der Schuß hatte zu unmittelbar ihr Herz getroffen, Tränen und Geschrei halfen ihr nicht mehr.
Ganz betäubt setzte sie sich nieder. Schlaff ließ sie die Hände sinken. Ihre Augen starrten vor sich hin, aber sie sprach nichts. Der ganze Lärm, die Unruhe auf dem Schiff, das Stöhnen der Maschinen drangen an ihr Ohr; das arme schmerzerstarrte Herz hatte keine Tränen, keine Klage, seinen grenzenlosen Jammer zu äußern. Sie war ganz ruhig.
»Ich weiß, zuerst erscheint es sehr hart, Lucy«, sagte er, »aber so ein flottes, verständiges Mädchen wie du läßt sich nicht unterkriegen. Du wirst einsehen, daß es nötig war und nicht zu ändern ist!«
»Oh! Hört auf, Herr, hört auf!« bat die Frau mit erstickter Stimme.
»Du bist doch ein schmuckes Mädchen, Lucy«, fuhr er hartnäckig fort. »Ich meine es doch gut mit dir und will dir einen guten Posten stromabwärts besorgen, da wirst du bald einen neuen Mann finden – so ein stattliches Mädchen wie du – «
»O Herr, wenn Ihr nur jetzt nicht reden wolltet!« sagte die Frau mit einer Stimme von solch ergreifender Seelenqual, daß selbst der Händler spürte, hier war seine gewöhnliche Taktik fehl am Platze. Er erhob sich, und die Frau wandte sich und vergrub ihr Gesicht in ihrem Mantel.
Der Händler schritt eine Weile auf und ab, hielt gelegentlich inne und betrachtete sie.
»Nimmt es sich doch zu Herzen«, überlegte er, »wenn sie auch still ist; – mag sie sich grämen, mit der Zeit wird sie schon zu sich kommen.«
Tom hatte den ganzen Vorgang mitangesehn. Er kam heran und versuchte, sie zu trösten, aber sie stöhnte nur. In aufrichtiger Trauer, wobei ihm selber die Tränen über die Backen liefen, sprach er von dem liebevollen Herzen im Himmel, von Jesus, der mitleidet, und von der ewigen Heimat, aber ihr Ohr war betäubt in seinem Schmerz, und ihr Herz hatte kein Gefühl außer seiner namenlosen Qual.
Die Nacht brach herein – die ruhige, unbewegte herrliche Nacht, die mit ungezählten feierlichen Engelsaugen, schön und funkelnd herniederstrahlte. Aus diesem fernen Himmel drang kein Wort, keine Rede, keine mitleidige Stimme, keine helfende Hand. Eine nach der anderen erstarben die geschäftigen, die fröhlichen Stimmen; auf dem Dampfer schlief alles, deutlich schlugen die Wellen gegen den Bug. Tom streckte sich auf einer der Kisten aus. Im Liegen hörte er ab und zu das unterdrückte Schluchzen des verzweifelten Geschöpfs. – »Ach! Was soll ich nur machen! – O Herrgott, erbarme dich!«, so klang es fort, bis das Gemurmel verstummte.
Um Mitternacht fuhr Tom erschrocken aus seinem Schlummer auf. Etwas Schwarzes glitt rasch an ihm vorbei, zur Schiffsseite hin, und er hörte ein Plätschern im Wasser. Niemand sonst hatte etwas gesehen oder gehört. Tom hob den Kopf – der Platz der Frau war leer. Er erhob sich und spähte vergeblich umher. Das arme blutende Herz hatte endlich seine Ruhe gefunden, und der Strom rauschte und glitzerte so hell, als ob er sich erst gerade über ihm geschlossen hätte.
Der Händler erwachte frisch und frühzeitig und kam herauf, um nach seiner Menschenherde zu sehen.
»Wo, zum Kuckuck, ist das Mädchen?« sagte er zu Tom.
Tom, der die Weisheit des Schweigens gelernt hatte, fühlte keine Veranlassung, seinen Verdacht und seine Beobachtungen preiszugeben, und erklärte, er wüßte es nicht.
»Sie konnte sich in der Nacht bestimmt nicht davonstehlen an den Landeplätzen, denn ich war wach und stand auf der Lauer, wenn der Dampfer hielt. Das ist ein Amt, das ich niemand anderem überlasse.«
Diese Mitteilung war vertraulich an Tom gerichtet, als sei sie für ihn von besonderem Interesse. Tom gab keine Antwort.
Der Händler durchsuchte das Schiff von vorn bis hinten, er blickte zwischen die Kisten, die Ballen und Fässer, er spähte in den Maschinenraum, er suchte bei den Schornsteinen, alles vergeblich.
»Also hör einmal, Tom, sei jetzt mal offen«, sagte er, als er nach seiner ergebnislosen Jagd zu Tom zurückkam. »Du weißt doch etwas davon,
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