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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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tatsächlich nach Kalifornien ging, war ich nicht Meeresbiologe, sondern Neurologe).
KAPITEL DREIUNDZWANZIG

BEFREITE WELT
    Gleich zu Beginn hatten die Curies bemerkt, dass ihre radioaktiven Substanzen die eigenartige Fähigkeit besaßen, überall in ihrer Umgebung Radioaktivität zu «induzieren». Sie fanden diese Tatsache faszinierend und ärgerlich zugleich, denn infolge der Kontamination ihrer Geräte wurde es fast unmöglich, die Radioaktivität der Proben selbst zu messen:
    Die verschiedenen im chemischen Laboratorium gebrauchten Gegenstände, schreibt Marie in ihrer Dissertation, werden bald alle radioaktiv… Der Staub, die Zimmerluft, die Kleider sind radioaktiv. In dem Laboratorium, in dem wir arbeiten, ist das Übel dermaßen akut geworden, daß wir keinen Apparat mehr in gut isolierendem Zustande halten können. [67]
    Bei der Lektüre dieses Abschnitts dachte ich an unser und an Onkel Abes Haus und fragte mich, ob sie - natürlich auf ungleich schwächere Weise - ebenfalls radioaktiv geworden waren; ob die Radiumfarbe auf den Zifferblättern von Onkel Abes Uhren in allen Dingen um sie herum Radioaktivität induziert und die Luft stumm und still mit durchdringenden Strahlen erfüllt hatte.
    Zunächst waren die Curies (wie Becquerel) geneigt, diese «induzierte Radioaktivität» einer immateriellen Ursache zuzuschreiben, sie als «Resonanz» zu begreifen, vielleicht analog zur Phosphoreszenz oder Fluoreszenz. Aber es gab auch Hinweise auf eine materielle Emission. Bereits 1897 hatten sie festgestellt, dass Thorium, wenn es in einer fest verschlossenen Flasche aufbewahrt wurde, eine erhöhte Radioaktivität aufwies und zu seinem vorherigen Niveau zurückkehrte, sobald die Flasche wieder geöffnet wurde, doch sie gingen dieser Beobachtung nicht weiter nach. Erst Ernest Rutherford erkannte die außerordentliche Bedeutung dieses Umstands: dass nämlich ein neuer Stoff entstand, hervorgebracht durch das Thorium, aber viel radioaktiver als dieses.
    Mit Hilfe des jungen Chemikers Frederick Soddy konnte Rutherford zeigen, dass jene «Emanation» des Thoriums tatsächlich eine materielle Substanz war, ein Gas, das sich isolieren ließ. Man konnte es fast so leicht verflüssigen wie Chlor, doch es reagierte auf keinen chemischen Stoff; es war so inaktiv wie Argon und die anderen neu entdeckten Edelgase. Soddy glaubte, die «Emanation» des Thoriums könnte tatsächlich Argon sein. Ihn überkam (wie er später schrieb)
    etwas, das mehr als Freude war - ich kann es nicht sehr gut ausdrücken - eine Art Ekstase… Ich weiß noch sehr gut, dass ich dort wie versteinert stand, erschlagen von der Bedeutung der Sache, und laut herausplatzte - zumindest erschien es mir damals so: ‹Rutherford, das ist Transmutation: Das Thorium zerfallt und verwandelt sich in Argongas.)
    Rutherfords Antwort zeigte seinen charakteristischen Sinn für praktische Aspekte: ‹Um Himmels willen, Soddy, nennen Sie es nicht Transmutation , sonst köpfen sie uns noch als Alchimisten.›
    Doch das neue Gas war nicht Argon, sondern ein vollkommen neues Element mit einem eigenen Emissionsspektrum. Es diffundierte sehr langsam und erwies sich als außerordentlich dicht - 111mal so dicht wie Wasserstoff, während Argon nur 20mal so dicht war. Ging man davon aus, ein Molekül des neuen Gases sei einatomig, enthalte wie die anderen Edelgase also nur ein Atom, so war daraus zu schließen, dass sein Atomgewicht 222 betrug. Damit war es das schwerste und letzte in der Edelgasreihe und in Mendelejews Periodensystem das abschließende Mitglied in der Gruppe null. Rutherford und Soddy bezeichneten es vorläufig als Thoron oder Emanation.
    Thoron verflüchtigte sich mit großer Geschwindigkeit - die Hälfte war nach einer Minute verschwunden, drei Viertel nach zwei Minuten, und nach zehn Minuten war es nicht mehr feststellbar. Die Schnelligkeit dieses Abbaus (und die Tatsache, dass an seiner Stelle eine radioaktive Ablagerung zurückblieb) gestatteten Rutherford und Soddy wahrzunehmen, was bei Uran oder Radium unklar geblieben war - dass es bei Atomen radioaktiver Elemente tatsächlich zu einem ständigen Zerfall kam und damit zur Umwandlung in andere Atome.
    Wie sie feststellten, hatte jedes radioaktive Element eine charakteristische Zerfallsrate, seine besondere «Halbwertzeit». Die Halbwertzeit eines Elements ließ sich mit außerordentlicher Genauigkeit errechnen, die Halbwertzeit eines Radonisotops ergab beispielsweise 3,8235 Tage. Die Lebensdauer eines

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