Onkel Wolfram - Erinnerungen
unerfindlichen Gründen in einander ablösende Zonen von zwei oder drei Metern Breite gesondert. Als die Eltern den Schauplatz unseres Missgeschicks, unseres Verbrechens, erreichten den Keller -, war der Geruch dort nicht länger als Sekunden auszuhalten. Alle drei fielen wir in tiefe Ungnade, vor allem ich, weil meine Gier (hätte es nicht auch ein einziger Tintenfisch getan?) und Dummheit, nicht zu wissen, wie viel Alkohol wir brauchten, an allem schuld waren. Jonathans Eltern mussten ihren Urlaub abbrechen und das Haus verlassen (es blieb, so hörten wir, für Monate unbewohnbar). Das alles konnte jedoch meiner Liebe zu Tintenfischen keinen Abbruch tun.
Und vielleicht gab es neben den biologischen Gründen auch einen chemischen, denn Tintenfische besitzen (wie viele andere Weichtiere und Krebstiere) nicht rotes, sondern blaues Blut, weil sie im Zuge der Evolution ein vollkommen anderes System zum Sauerstofftransport entwickelt haben als die Wirbeltiere. Während unser roter, der Atmung dienender Blutfarbstoff, das Hämoglobin, Eisen enthält, findet sich in ihrem blaugrünen Pigment, dem Hämozyanin, Kupfer. Eisen wie Kupfer verfügen über ein ausgezeichnetes Reduktionspotential: Sie können leicht Sauerstoff aufnehmen und in einen höheren Oxidationszustand gelangen, und ihn dann nach Bedarf abgeben und reduziert werden. Ich fragte mich, ob ihre Nachbarn im Periodensystem (einige mit größerem Redoxpotential) auch für den Sauerstofftransport im Blut Verwendung fänden, und war äußerst fasziniert zu hören, dass einige Manteltiere (Tunicaten) große Mengen des Elements Vanadium in ihrem Körper aufweisen und spezielle Zellen besitzen, die Vanadozyten, um es zu speichern. Warum dies so war, blieb ein Rätsel, offenbar hatte es nichts mit dem Sauerstofftransportsystem zu tun. Absurder- und anmaßenderweise glaubte ich, das Rätsel während einer unserer jährlichen Exkursionen nach Millport lösen zu können. Doch ich brachte nicht mehr zustande, als eine Menge Manteltiere zu sammeln (mit der gleichen Unersättlichkeit, die mich hatte zu viele Tintenfische horten lassen). Man könnte sie verbrennen, überlegte ich, und den Vanadiumgehalt in ihrer Asche ermitteln. (Ich hatte gelesen, dass er bei manchen Arten mehr als vierzig Prozent ausmachte.) Das brachte mich auf die einzige kaufmännische Idee, die ich jemals hatte: eine Vanadiumfarm aufzumachen - viele Hektar Meereswiesen, mit Manteltieren bepflanzt. Ich würde sie das kostbare Vanadium aus dem Meereswasser extrahieren lassen, wie sie es mit so viel Erfolg seit 300 Millionen Jahren taten, und es dann für 500 Pfund Sterling pro Tonne verkaufen. Das einzige Problem, so erkannte ich bestürzt über meine mörderischen Gedanken, wäre die Tatsache, dass ich für dieses Unterfangen einen Holocaust an den Manteltieren in Kauf nehmen müsste.
Das Organische in seiner ganzen Komplexität drang nun auf mein eigenes Leben ein und veränderte mich bis in die Grundfesten meines Körpers. Plötzlich begann ich sehr rasch zu wachsen, Haare sprossen mir im Gesicht, in den Achselhöhlen, um die Genitalien; und meine Stimme - immer noch ein heller Diskant, wenn ich meine Haftorah sang - begann jetzt zu brechen und unberechenbar zwischen den Tonlagen hin und her zu springen. Im Biologieunterricht entwickelte ich ein plötzliches, eingehendes Interesse an den Reproduktionssystemen von Tieren und Pflanzen, besonders den «niederen», Wirbellosen und Nacktsamern. Die Sexualität von Palmfarnen und Ginkgos faszinierte mich - dass Letztere wie Farne frei bewegliche Spermatozoen bewahrten, aber große und gut geschützte Samen besaßen. Noch interessanter fand ich die Cephalopoden, Tintenfische, weil die Männchen einen modifizierten Arm mit Spermatozoen in die Mantelhöhle des Weibchens schoben. Das war zwar immer noch weit entfernt von menschlicher, von meiner eigenen Sexualität, aber ich begann die Sexualität als Thema zu entdecken und auf ihre Art fast so interessant zu finden wie Valenz oder Periodizität.
So angetan wir auch von der Biologie waren, niemand von uns konnte so monomanisch sein wie Mr. Pask. Da gab es all die Anziehungskräfte der Jugend, der Entwicklungsjahre, die Energie erwachender Geisteskräfte, die sich in alle Richtungen entfalten und noch nicht einer einzigen Sache verschreiben wollten.
Seit vier Jahren schwang in mir ein vorwiegend wissenschaftlicher Geist. Ein leidenschaftlicher Sinn für Ordnung, für formale Schönheit hatte mich für die
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