Onkel Wolfram - Erinnerungen
lärmender, schlauer jüdischer Jungen waren, die einen Dämpfer brauchten - führten zum Ende unserer Gesellschaft. Der Direktor rief mich eines Tages zu sich und erklärte ohne Umschweife: «Sacks, ihr seid aufgelöst.»
«Was meinen Sie damit, Sir?», stammelte ich. «Sie können uns doch nicht so einfach auflösen.»
«Sacks, ich kann tun, was mir passt. Eure literarische Gesellschaft ist von diesem Augenblick an aufgelöst.»
«Aber warum, Sir?», fragte ich. «Was sind Ihre Gründe?»
«Die nenne ich dir nicht, Sacks. Ich muss keine Gründe haben. Du kannst jetzt gehen, Sacks. Es gibt euch nicht. Es gibt euch nicht mehr.» Daraufhin schnippte er mit den Fingern eine Geste, die Entlassung, die Vernichtung bedeutete - und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Ich machte Eric, Jonathan und anderen Mitgliedern unserer Gesellschaft davon Mitteilung. Wir waren empört und verwirrt und fühlten uns völlig hilflos. Der Direktor verkörperte die Autorität, die absolute Macht, wir konnten ihm nicht widersprechen und uns ihm nicht widersetzen.
Cannery Row. Die Straße der Ölsardinen von John Steinbeck erschien 1945 oder 1946, und ich muss das Buch kurz darauf gelesen haben - vielleicht 1948, als ich neben der Biologie in der Schule die Meeresbiologie als neues Interessengebiet entdeckte. Besonderen Gefallen fand ich an Doc, wie er nach kleinen Tintenfischen in den Gezeitentümpeln bei Monterey suchte, mit den Jungen Bier-Milchshakes trank, die idyllische Beschaulichkeit und Annehmlichkeit seines Lebens genoss. Ich glaubte, ein solches Leben könnte auch mir gefallen, ein Leben im magischen, mythischen Kalifornien (das bereits durch die Cowboyfilme zum Phantasieland für mich geworden war). In meinen Teenagerjahren nahm Amerika immer größeren Raum in meinen Gedanken ein - im Krieg war es unser großer Verbündeter gewesen, seine Macht und seine Mittel wirkten fast unbegrenzt. Hatte es nicht die erste Atombombe der Welt gebaut? Auf den Straßen Londons sah ich amerikanische Soldaten - ihre Gesten, ihre Sprechweise strahlten Selbstvertrauen aus, eine Ungezwungenheit und Unbekümmertheit, die uns nach sechs Jahren Krieg fast unvorstellbar erschien. Die Zeitschrift Life präsentierte doppelseitige Bilder von Bergen, Canyons, Wüsten und Landschaften von einer Weite und Großartigkeit, die man in Europa nicht kannte, dazu amerikanische Städte voll von lächelnden, optimistischen, gut genährten Menschen, deren Häuser neu und glänzend, deren Läden prall gefüllt waren und deren Alltag von einem Überfluss und einer Lebensfreude geprägt schien, die einfach überwältigend wirkten auf uns mit unserer strengen Rationierung und unseren bedrückenden Erinnerungen an die Kriegsjahre. Zu diesem verlockenden Bild von transatlantischer Unbeschwertheit, von überlebensgroßem Glanz und Glamour trugen Musicals wie Annie Get Your Gun und Oklahoma noch mit eigener mythenbildender Kraft bei. In dieser Atmosphäre romantischer Verklärung machten die Straße der Ölsardinen und (trotz gewisser Schwächen) ihre Fortsetzung Sweet Thursday (Wonniger Donnerstag) ungeheuren Eindruck auf mich.
Hatte ich mir (in den Tagen von St. Lawrence) manchmal eine mythische Vergangenheit ausgemalt, begann ich jetzt von der Zukunft zu phantasieren, mich als Wissenschaftler oder Naturforscher an den Küsten oder im weiten Hinterland Nordamerikas zu sehen. Ich las Berichte über die Reisen von Lewis und Clark, ich las Emerson und Thoreau, und vor allem las ich John Muir. Ich ließ mich verzaubern von Albert Bierstadts erhabenen und romantischen Landschaften und von Ansei Adams' schönen, sinnlichen Fotografien (gelegentlich träumte ich davon, selbst Landschaftsfotograf zu werden).
Mit sechzehn oder siebzehn Jahren war ich hellauf begeistert für die Meeresbiologie und schrieb einschlägige Institute überall in den Vereinigten Staaten an - Wood's Hole in Massachusetts, das Scripps Institute in La Jolla, das Golden Gate Aquarium in San Francisco und natürlich Cannery Row in Monterey (der Straße oder, besser, dem Viertel der Ölsardinen, in dem das reale Vorbild für «Doc», Ed Ricketts, sein Forschungslabor hatte). Ich glaube, ich bekam von allen freundliche Antworten, in denen sie mein Interesse und meine Begeisterung begrüßten, aber auch keinen Zweifel daran ließen, dass ich doch einige richtige Qualifikationen brauchte und mich wieder melden sollte, wenn ich einen Universitätsabschluss in Biologie hätte (als ich zehn Jahre später
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