Onkel Wolfram - Erinnerungen
Wohlgestaltheit des Periodensystems oder von Daltons Atomen empfänglich gemacht. Bohrs Quantenatome schienen mir von himmlischer Beschaffenheit zu sein, wie für die Ewigkeit gemacht. Manchmal hatte mich die formale, geistige Schönheit des Universums in eine Art Ekstase versetzt, doch jetzt, mit Einsetzen anderer Interessen, kamen auch ganz entgegengesetzte Gefühle, der Eindruck von Leere oder Freudlosigkeit in mir auf. Diese Schönheit und Liebe zur Naturwissenschaft befriedigten mich nicht mehr, ich hungerte nach Menschlichem, Persönlichem.
Vor allem die Musik nährte und stillte zugleich diesen Hunger, Musik, die mich zittern machte und den Wunsch weckte, zu weinen oder aufzuheulen, Musik, die mich tief berührte und in meinem Innersten ansprach - obwohl ich nicht sagen konnte, «worum» es ging, warum sie derart auf mich wirkte. Vor allem Mozart rief Empfindungen von fast unerträglicher Intensität in mir hervor, aber diese Gefühle näher zu beschreiben, überstieg meine Möglichkeiten, vielleicht sogar das Sprachvermögen selbst.
Die Poesie bekam eine neue, persönliche Bedeutung. Wir «hatten» Milton und Pope in der Schule, aber jetzt begann ich, sie für mich selbst zu entdecken. Bei Pope gab es Zeilen von überwältigender Zartheit - «Die of a rose in aromatic pain » [66] - die ich mir unablässig wiederholte, bis sie mich in eine andere Welt entrückten.
Jonathan, Eric und ich waren alle mit der Liebe zum Lesen und zur Literatur aufgewachsen. Jonathans Mutter schrieb Romane und Biographien. Eric, frühreifer als wir anderen, las seit seinem achten Lebensjahr Gedichte. Ich selbst tendierte mehr zu historischen und biographischen Schriften, vor allem Erinnerungen und Tagebüchern. (Damals begann ich auch, ein eigenes Tagebuch zu führen.) Da meine Lektüreinteressen (nach Erics und Jonathans Ansicht) etwas eingeschränkt waren, versuchten sie jetzt, meinen literarischen Horizont zu erweitern - Jonathan durch Selma Lagerlöf und Proust (ich hatte bisher nur von Joseph-Louis Proust, dem Chemiker, gehört, nicht von Marcel) und Eric durch T. S. Eliot, der seiner Ansicht nach ein größerer Dichter war als Shakespeare. Eric nahm mich auch ins Cosmo Restaurant in der Finchley Road mit, wo wir bei Zitronentee und Strudel den Gedichten von Dannie Abse lauschten, damals ein junger Medizinstudent.
Frech beschlossen wir drei, an der Schule eine literarische Gesellschaft zu gründen. Zwar gab es schon die Milton Society, doch die siechte seit vielen Jahren vor sich hin. Jonathan wurde unser Sekretär, Eric der Schatzmeister und ich (obwohl ich fand, dass ich am wenigsten Ahnung hatte und am schüchternsten war) der Präsident.
Zu unserer Gründungssitzung fand sich eine Gruppe von Neugierigen ein. Man erwies sich als sehr interessiert an der Einladung von Gastrednern - Dichtern, Dramatikern, Romanciers, Journalisten -, und mir als Präsident fiel die Aufgabe zu, sie zum Kommen zu bewegen. Eine erstaunliche Anzahl von Schriftstellern erschien zu unseren Treffen - angelockt von dem exzentrischen Stil der Einladungen (denke ich), einer absurden Mischung aus halb kindisch und halb erwachsen, und vielleicht von der Aussicht, vor einer Schar begeisterter Jungen zu sprechen, die tatsächlich einige ihrer Werke gelesen hatten und darauf erpicht waren, sie kennen zu lernen. Der größte Coup wäre George Bernard Shaw gewesen - er schickte mir jedoch eine reizende Postkarte, auf der er mir in zittriger Schrift mitteilte, er wäre zwar gerne gekommen, sei aber zu alt zum Reisen (er sei dreiundneunzig und drei Viertel, schrieb er). Dank der eingeladenen Redner und der lebhaften Diskussionen anschließend brachten wir es zu einer gewissen Beliebtheit. Bis zu siebzig Jungen erschienen zu unseren wöchentlichen Veranstaltungen, weit mehr als jemals zu den steifen Treffen der Milton Society gekommen waren. Außerdem gaben wir Prickly Pear heraus, eine mit etwas verschmierter lila Tinte vervielfältigte Zeitschrift. Sie enthielt Beiträge von Schülern, gelegentlich den Text eines Lehrers und ganz selten auch einmal etwas von einem «echten» Schriftsteller.
Doch eben dieser Erfolg und vielleicht noch einige andere, nie ausdrücklich eingestandene Gründe - dass wir uns über Autoritäten lustig machten, subversive Absichten hegten, das Schicksal der Milton Society endgültig besiegelt hatten (die angesichts unseres Erfolgs ihre nie sehr zahlreich besuchten Treffen ganz einschlafen ließ) und dass wir eine Horde lästiger,
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