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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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einzelnen Atoms hingegen ließ sich nicht im Mindesten vorhersagen. Dieser Gedanke stürzte mich in tiefe Verwirrung. Wieder und wieder nahm ich mir Soddys Bericht vor:
    Zu jedem Zeitpunkt liegt die Wahrscheinlichkeit fest , ob ein Atom in einer bestimmten Sekunde zerfallt oder nicht zerfällt. Nach unserem Wissen hat sie nichts mit irgendwelchen inneren oder äußeren Gründen zu tun, vor allem wird sie nicht durch den Umstand erhöht, dass das Atom bereits einen bestimmten Zeitraum überlebt hat… wir können hier nur sagen, dass die unmittelbare Ursache des Atomzerfalls offenbar vom Zufall abhängt.
    Die Lebensspanne einzelner Atome schwankte allem Anschein nach zwischen null und unendlich, und es gab nichts, wodurch man zwischen einem Atom, das «fällig» war, bereit zu zerfallen, und einem anderen, das noch eine Milliarde Jahre vor sich hatte, hätte unterscheiden können.
    Ich fand es äußerst rätselhaft und beunruhigend, dass ein Atom jederzeit zerfallen konnte - ohne einen «Grund». Dies schien die Radioaktivität aus dem Reich der Kontinuität und des prozesshaften Geschehens, aus dem verstehbaren, kausalen Universum zu verbannen - und auf einen Bereich zu verweisen, in dem Gesetze klassischer Art keine Bedeutung hatten.
    Die Halbwertzeit des Radiums war sehr viel länger als die seiner Emanation, des Radons, nämlich 1600 Jahre. Doch das war noch immer sehr wenig im Vergleich zum Alter der Erde. Wenn Radium ständig zerfiel, warum war es dann noch nicht vollständig von der Erde verschwunden? Die Antwort leitete Rutherford zunächst theoretisch ab; er konnte sie aber bald auch empirisch belegen: Radium wird durch Elemente mit einer weit längeren Halbwertzeit erzeugt, einer ganzen Kette von Stoffen, die Rutherford bis zum Mutterelement, Uran, zurückverfolgen konnte. Für das Uran hatte man eine Halbwertzeit von viereinhalb Milliarden Jahren ermittelt, was in etwa dem Alter der Erde entsprach. Andere radioaktive Zerfallsreihen begannen mit Thorium, das eine noch längere Halbwertzeit hatte als das Uran. Die Erde lebte also, was die Atomenergie anging, immer noch von Uran und Thorium, das schon bei der Entstehung des Planeten zugegen gewesen war.
    Diese Entdeckungen hatten entscheidende Bedeutung für einen lang andauernden Streit über das Alter der Erde. Der namhafte Physiker Kelvin schrieb Anfang der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, kurz nach dem Erscheinen von Darwins Entstehung der Arten , wenn man von der Abkühlungsrate der Erde ausgehe und keine weitere Wärmequelle außer der Sonne annehme, dann könne die Erde nicht älter als zwanzig Millionen Jahre sein und werde in fünf Millionen Jahren wiederum zu kalt sein, um noch Leben zu erhalten. Diese Berechnung war nicht nur an sich bestürzend, sie ließ sich auch nicht mit den fossilen Funden vereinbaren, die darauf hinwiesen, dass es bereits seit vielen hundert Millionen Jahren Leben gab - und doch schien es keine Möglichkeit zu geben, Kelvins Argument zu widerlegen. Darwin hat dieser Umstand sehr zu schaffen gemacht.
    Erst mit Entdeckung der Radioaktivität ließ sich das Rätsel lösen. Es heißt, der junge Rutherford habe, sehr nervös, als er dem berühmten, inzwischen achtzigjährigen Lord Kelvin gegenüberstand, die Meinung vertreten, Kelvins Berechnung gründe sich auf eine falsche Annahme. Neben der Sonne gebe es durchaus noch eine weitere Wärmequelle, so Rutherford, eine, die für die Erde sehr bedeutend sei. Radioaktive Elemente (vor allem Uran und Thorium sowie ihre Zerfallsprodukte, aber auch ein radioaktives Kaliumisotop) würden die Erde seit Jahrmilliarden erwärmen und sie vor dem frühzeitigen Wärmetod bewahren, den Kelvin ihr vorhergesagt habe. Rutherford hielt ein Stück Pechblende hoch, dessen Alter er nach der Heliummenge berechnet hatte, die es enthielt. Dieses Stück Erde, sagte er, sei mindestens 500 Millionen Jahre alt.
    Am Ende waren Rutherford und Soddy in der Lage, drei gesonderte radioaktive Zerfallsreihen nachzuzeichnen, jede mit etwa einem Dutzend Stoffen, die aus dem Zerfall der ursprünglichen Mutterelemente hervorgingen. Waren alle diese Zerfallsprodukte möglicherweise verschiedene Elemente? Im Periodensystem war kein Platz für drei Dutzend Elemente zwischen Wismut und Thorium - vielleicht für ein halbes Dutzend, aber nicht viel mehr. Erst allmählich stellten sich viele dieser Elemente einfach als andere Versionen ihrer selbst heraus; beispielsweise waren die Emanationen von Radium, Thorium und

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