Onkel Wolfram - Erinnerungen
Actinium trotz erheblich abweichender Halbwertzeiten chemisch identisch mit ihren Mutterelementen, die gleichen Elemente, wenn auch mit etwas anderen Atomgewichten. (Soddy nannte sie später Isotope.) Ähnlich verhielt es sich mit den Endpunkten jeder Reihe - Radium G, Actinium E und Thorium E, wie sie genannt wurden, waren alle Bleiisotope.
Jeder Stoff in diesen Zerfallsreihen hatte seine eigene Radiosignatur, eine Halbwertzeit von feststehender und unveränderlicher Dauer und eine charakteristische Strahlenemission. Diese Eigenschaften ermöglichten es Rutherford und Soddy, die verschiedenen Stoffe zu unterscheiden, ein Prozess, in dessen Verlauf sie eine neue Wissenschaft aus der Taufe hoben: die Radiochemie.
Damit ließ sich das Konzept des Atomzerfalls, das Marie Curie als Erste vorgeschlagen, dann aber wieder fallen gelassen hatte, nicht länger in Abrede stellen. Es war offenkundig, dass jede radioaktive Substanz unter Abgabe von Energie zerfiel und sich in ein anderes Element verwandelte. Diese Transmutation bildete das Kernstück der Radioaktivität.
Meine Liebe zur Chemie rührte nicht zuletzt daher, dass sie eine Wissenschaft von den Verwandlungen war, von den unzähligen Verbindungen, die sich aus einigen Dutzend Elementen aufbauten, die ihrerseits unveränderlich und ewig blieben. Das Gefühl der Verlässlichkeit und Unveränderlichkeit der Elemente hatte für mich große psychologische Bedeutung. Ich sah die Elemente als Fixpunkte, als Anker in einer unbeständigen Welt. Doch nun wurden mit der Radioaktivität Veränderungen der unglaublichsten Art möglich. Welcher Chemiker hätte sich träumen lassen, dass aus Uran, einem harten, wolframartigen Metall, derart verschiedene Stoffe hervorgehen konnten: ein Erdalkalimetall wie Radium, ein Edelgas wie Radon, ein tellurartiges Element wie Polonium, radioaktive Formen von Wismut und Thallium und schließlich Blei - womit fast jede Gruppe des Periodensystems vertreten war.
Kein Chemiker hätte sich so etwas vorstellen können (allenfalls die Alchimisten), weil die Umwandlungen sich außerhalb chemischer Grenzen vollzogen. Kein chemischer Prozess, keine noch so heftige chemische Reaktion konnte je die Identität eines Elements verändern. Das galt auch für die radioaktiven Elemente. Radium verhielt sich chemisch ähnlich wie Barium, seine Radioaktivität war eine vollkommen andere Eigenschaft, ohne Bezug zu seinen chemischen oder physikalischen Eigenschaften. Die Radioaktivität bildete ein wunderbares (oder schreckliches) Extra, eine vollkommen andere Eigenschaft (eine, die ich gelegentlich ärgerlich fand, denn ich mochte die wolframartige Dichte des metallischen Urans, seine Fluoreszenz sowie die Schönheit seiner Mineralien und Salze, doch ich konnte nicht lange damit hantieren, weil es zu gefährlich gewesen wäre, entsprechend empörte mich die starke Radioaktivität von Radon, das sonst ein ideales schweres Gas gewesen wäre).
Dabei veränderte die Radioaktivität gar nichts an der Realität der Chemie oder am Begriff der Elemente, sie erschütterte weder das Prinzip ihrer Stabilität noch das ihrer Identität. Sie war lediglich ein Hinweis darauf, dass es zwei Bereiche im Atom gab - einen relativ oberflächlichen und zugänglichen Bereich, der für die chemischen Reaktionen und Verbindungen zuständig war, und einen tieferen Bereich, der für die gewöhnlichen chemischen und physikalischen Agenzien und ihre relativ geringen Energien unzugänglich blieb und wo jede Veränderung die Identität des Elements grundlegend verwandelte.
Onkel Abe hatte in seinem Haus ein «Spinthariskop», genau so eines, wie es in der Anzeige auf Marie Curies Dissertation angepriesen wurde. Es war ein wunderbar einfaches Instrument, das aus einem Fluoreszenzschirm und einem Vergrößerungsglas als Okular bestand und in seinem Inneren ein unendlich kleines Körnchen Radium enthielt. Bei einem Blick durchs Okular bekam man Dutzende von Szintillationen in der Sekunde zu sehen - als Onkel Abe es mir reichte und ich es ans Auge hielt, fand ich das Schauspiel betörend, magisch, als betrachte man eine endlose Folge von Meteoren oder Sternschnuppen.
Spinthariskope, die es für wenige Shillinge gab, waren Anfang des 20. Jahrhunderts beliebte Spielzeuge in englischen Salons - eine Errungenschaft des neuen Jahrhunderts, die sich zu den Stereoskopen und Geißlerschen Röhren aus viktorianischer Zeit gesellten. Doch auch wenn sie zunächst als eine Art Spielzeug dienten, erkannte
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