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Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
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Michael, doch in Braefield, wo er die Verantwortung übernahm, entwickelte er sich rasch zum Ungeheuer. Er entpuppte sich als bösartig, ja sadistisch und züchtigte viele von uns fast täglich und mit offensichtlichem Vergnügen. «Eigensinn» wurde streng bestraft. Ich fragte mich manchmal, ob ich wohl sein «Liebling» sei, den er am häufigsten zur Bestrafung herausgriff, doch tatsächlich wurden viele von uns so heftig geschlagen, dass wir tagelang nicht richtig sitzen konnten. Einmal zerbrach er einen Rohrstock auf meinem achtjährigen Hintern und brüllte: «Verdammt noch mal, Sacks! Schau dir an, was du angerichtet hast!» Er setzte den Preis des Rohrstocks auf meine Rechnung. Schikanen und Grausamkeiten waren allerdings auch unter den Jungen sehr verbreitet. Sie entwickelten großen Einfallsreichtum, um die Schwächen der kleineren Kinder herauszufinden und sie bis über die Grenzen des Erträglichen hinaus zu quälen.
    Doch bei all dem Schrecken gab es auch plötzliche Lichtblicke, die man besonders deutlich empfand, weil sie so selten waren und in so krassem Widerspruch zum übrigen Leben standen. Mein erster Winter dort, der Winter 1939/40, war außergewöhnlich kalt - mit Schneetreiben und Verwehungen, die höher waren als ich, und langen glitzernden Eiszapfen, die vom Dach der Kirche herabhingen. Diese Winterlandschaft mit ihren manchmal unglaublichen Schnee- und Eisgebilden versetzte mich in meiner Phantasie nach Lappland oder ins Märchenland. Die Schule zu verlassen und sich in die umliegenden Felder aufzumachen, war stets ein Vergnügen; und das Weiß, die Unberührtheit und Reinheit des Schnees waren eine wunderbare, wenn auch kurze Erholung von der Eingeschlossenheit, dem Elend und dem Gestank der Schule. Einmal gelang es mir irgendwie, mich von den anderen Jungen und unserem Lehrer zu entfernen, sodass ich einen kurzen, ekstatischen Augenblick lang das Gefühl genießen konnte, mich zwischen den Schneeverwehungen «verirrt» zu haben - ein Gefühl, das sich rasch in Schrecken verwandelte, als sich herausstellte, dass ich mich tatsächlich verirrt hatte und das Ganze kein Spiel mehr war. Ich war sehr glücklich, als man mich schließlich fand, in den Arm nahm und mir nach der Rückkehr in die Schule eine Tasse heißer Schokolade vorsetzte.
    Meiner Erinnerung nach entdeckte ich im gleichen Winter die Eisblumen an den Fensterscheiben der Pfarrhaustüren. Ich war von ihren Nadelspitzen und Kristallformen fasziniert und stellte staunend fest, dass ich einige mit meinem Atem zum Schmelzen bringen konnte, sodass kleine Gucklöcher entstanden. Eine meiner Lehrerinnen - sie hieß Barbara Lines - bemerkte mein starkes Interesse und zeigte mir die Schneekristalle unter einer Lupe. Niemals seien auch nur zwei vollkommen gleich, erklärte sie mir, und die Erkenntnis, wie viele Variationsmöglichkeiten in einer sechseckigen Grundform steckten, wurde eine Offenbarung für mich.
    Auf einem der Felder stand ein ganz besonderer Baum, den ich liebte; seine Silhouette gegen den Himmel sprach mich auf seltsame Weise an. Ich sehe ihn immer noch vor mir, auch den gewundenen Pfad, der zu ihm hinführte. Dass es neben dem Reich der Schule zumindest noch die Natur gab, war ein zutiefst beruhigendes Gefühl.
    Das Pfarrhaus mit seinem weitläufigen Garten, in dem die Schule untergebracht war, die alte Kirche daneben und das eigentliche Dorf - das alles erschien hübsch, ja, idyllisch. Die Dorfbewohner verhielten sich freundlich gegenüber diesen offensichtlich heimwehkranken und unglücklichen Jungen aus London. Hier im Dorf lernte ich bei einer drallen jungen Frau reiten; gelegentlich, wenn ich besonders unglücklich aussah, nahm sie mich in den Arm. (Michael hatte mir Abschnitte aus Gullivers Reisen von Swift vorgelesen, und manchmal kam sie mir vor wie Glumdalclitch, Gullivers Riesenkindermädchen.) Bei einer alten Dame bekam ich Klavierstunden. Sie machte mir immer einen Tee. Im Dorfladen kaufte ich mir Lollys und hin und wieder eine Scheibe Cornedbeef. Es gab auch schulische Momente, die mir Spaß machten: als wir Modellflugzeuge aus Balsaholz bastelten oder als ich mit einem Freund, einem kleinen rothaarigen Jungen in meinem Alter, ein Baumhaus baute. Doch meistens fühlte ich mich in Braefield wie gefangen, ohne Hoffnung, ohne Rettung, auf ewig - viele von uns, nehme ich an, haben durch diesen Aufenthalt ernsthafte seelische Schäden erlitten.
    Während der vier Jahre, die wir in der Schule in Braefield verbrachten,

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