Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Onkel Wolfram - Erinnerungen

Onkel Wolfram - Erinnerungen

Titel: Onkel Wolfram - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Sacks
Vom Netzwerk:
Körperkraft und sportlichem Geschick mangelte… der Schikane zweier Seiten [eines bösartigen Schuldirektors und tückischer Mitschüler] ausgeliefert…. Wir fanden Zuflucht in einem Reich, das gleichermaßen unzugänglich war für unseren Lateinbesessenen Direktor wie für unsere Footballbesessenen Schulkameraden. Wir fanden Zuflucht in der Naturwissenschaft… Wir lernten,… dass die Wissenschaft ein Reich der Freiheit und Freundschaft war inmitten von Tyrannei und Hass.
    Ich fand meine Zuflucht zunächst in den Zahlen. Mein Vater war ein Ass im Kopfrechnen, und auch ich konnte, obwohl erst sechs, schon rasch mit Zahlen jonglieren - mehr noch, ich hatte eine Leidenschaft für sie. Ich mochte Zahlen, weil sie zuverlässig und unveränderlich waren. Sie waren Fixpunkte in einer chaotischen Welt. Es gab in den Zahlen und ihren Beziehungen etwas, was absolut und sicher war, nicht infrage gestellt werden konnte und über jeden Zweifel erhaben blieb. (Jahre später, als ich Orwells 1984 las, lag für mich der entsetzliche, der endgültige Beweis für Winstons Zerrüttung und Niederlage in seinem unter Folter erzwungenen Verleugnen, dass zwei und zwei vier sind. Noch schrecklicher war, dass er es schließlich selbst zu bezweifeln begann und ihn am Ende auch die Zahlen im Stich ließen.) Meine besondere Liebe galt den Primzahlen, der Tatsache ihrer Unteilbarkeit, ihrer Unzerlegbarkeit, ihrer nicht entfremdbaren Identität. (Zu mir selbst hatte ich kein solches Vertrauen, denn mir war, als würde ich jede Woche ein bisschen mehr geteilt, entfremdet, zerlegt.) Primzahlen waren die Bausteine aller anderen Zahlen, daher mussten sie meiner Meinung nach eine besondere Bedeutung haben. Warum tauchten Primzahlen auf? Lag ihrer Verteilung irgendein Muster, eine Logik zugrunde? Hörten sie irgendwann auf oder setzten sie sich endlos fort? Unzählige Stunden verbrachte ich damit, Zahlen in ihre Faktoren zu zerlegen, nach Primzahlen zu suchen, sie auswendig zu lernen. Ich verdankte ihnen viele Stunden weltvergessener, abgeschiedener Beschäftigung, bei der ich niemand anderen brauchte.
    Ich legte ein Gitternetz, zehn mal zehn, der ersten hundert Zahlen an und schwärzte die Primzahlen ein, konnte aber kein Muster, keine Logik in ihrer Verteilung erkennen. Ich vergrößerte die Tabellen und Gitternetze auf zwanzig mal zwanzig, dreißig mal dreißig, doch noch immer zeigte sich kein erkennbares Muster. Trotzdem war ich davon überzeugt, dass es eines gab.
    Die einzigen echten Ferien, die ich während des Krieges hatte, waren Besuche bei meiner Tante Len in Cheshire, mitten im Delamere Forest, wo sie die Jewish Fresh Air School für «heikle Kinder» gegründet hatte. (Das waren Kinder aus Arbeiterfamilien in Manchester - viele hatten Asthma, einige Rachitis oder Tuberkulose, und eines oder zwei, so vermute ich im Nachhinein, waren autistisch). Alle Kinder hatten einen eigenen kleinen Garten, kleine Flecken Erde von zwei, drei Metern, die mit Steinen voneinander abgegrenzt wurden. Verzweifelt wünschte ich mir, ich könnte in Delamere zur Schule gehen statt in Braefield - ein Wunsch, den ich nie äußerte (obwohl ich mich fragte, ob meine kluge und liebevolle Tante ihn nicht ahnte).
    Tante Len bereitete mir immer größte Freude, indem sie mir alle möglichen botanischen und mathematischen Besonderheiten zeigte. Im Garten wies sie mich auf die Spiralmuster im Blütenkorb der Sonnenblumen hin und forderte mich auf, ihre Samen zu zählen. Dabei erklärte sie mir, dass sie entsprechend einer mathematischen Reihe angeordnet seien - l, l, 2, 3, 5, 8, 13, 21 usw. -, wobei jede Zahl die Summe der beiden vorhergehenden bildete. Und wenn man jede Zahl durch die nächstfolgende teilte (1/2, 2/3, 3/5, 5/8 usw.), näherte man sich dem Wert 0,618. Diese Zahlenreihe heiße Fibonacci-Reihe, nach einem italienischen Mathematiker, der vor Jahrhunderten gelebt habe. Der Quotient 0,618 werde auch als Wert der goldenen Proportion oder des goldenen Schnittes bezeichnet, ein ideales geometrisches Verhältnis, das häufig von Architekten und Malern verwendet werde.
    Tante Len unternahm lange botanische Waldspaziergänge mit mir, zeigte mir, dass auch Kiefernzapfen spiralige Anordnungen nach dem goldenen Schnitt aufweisen, ließ mich an einem Flussufer die festen, knotig gegliederten Stiele von Schachtelhalmen befühlen und schlug mir vor, sie abzumessen und die Längen der aufeinander folgenden Segmente in einer Kurve darzustellen. Als ich es tat und sah,

Weitere Kostenlose Bücher