Onkel Wolfram - Erinnerungen
nicht erklären können. Aber es war sicherlich eine Botschaft, ein symbolischer Akt, mit dem ich meine Eltern auf meinen Kohlenverschlag aufmerksam machen wollte, auf Braefield, auf meine Not und meine Hilflosigkeit dort. Obwohl täglich Bomben auf London niedergingen, fürchtete ich die Rückkehr nach Braefield mehr als alles andere. Ich wünschte mir sehnlichst, zu Hause bleiben zu können, bei der Familie, und nicht getrennt von ihnen. Selbst wenn wir alle den Bomben zum Opfer fielen.
In den Jahren vor dem Krieg hatte ich religiöse Vorstellungen und Empfindungen ganz kindlicher Art. Wenn meine Mutter die Schabbes-Kerzen anzündete, meinte ich fast körperlich zu spüren, wie der Sabbat Einzug hielt, willkommen geheißen wurde und sich wie eine weiche Decke auf die Erde senkte. Ich stellte mir vor, dies geschähe überall im Universum - auch auf die fernsten Sternensysteme und Galaxien komme der Sabbat herab und hülle sie ein in den Frieden Gottes.
Gebete waren ein Teil meines Lebens. Zunächst das Schma Jisrael «Höre, o Israel…», dann das Abendgebet, das ich vor dem Schlafen aufsagte. Meine Mutter wartete, bis ich mir die Zähne geputzt und den Pyjama angezogen hatte, dann kam sie herauf und setzte sich zu mir aufs Bett, während ich den hebräischen Text hersagte: «Baruch atoh adonai …» «Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du Sorge trägst, dass die Binden des Schlafs auf meine Augen fallen und auf meinen Lidern schlummern…» Es klang schön auf Englisch, aber noch schöner auf Hebräisch. (Hebräisch, so erzählte man mir, sei Gottes Muttersprache, obwohl Er natürlich jede Sprache verstehe und sogar die Gefühle eines Menschen, wenn der sie nicht in Worte kleiden könne.) «Ewiger unser Gott und Gott meiner Väter, lass mich ruhig schlafen und mich frisch wieder aufstehen…» Doch spätestens hier lasteten die Binden des Schlafs (was immer sie sein mochten) schwer auf meinen Augen, sodass ich selten weiter kam. Dann gab mir meine Mutter einen Kuss, und ich fiel augenblicklich in Schlaf.
Zurück in Braefield gab es keine Gutenachtküsse mehr, und ich gab mein Abendgebet auf, denn für mich war es untrennbar mit dem Kuss meiner Mutter verbunden. Jetzt wäre es nur eine unerträgliche Erinnerung an ihre Abwesenheit gewesen. Die gleichen Worte, die mir sonst so lieb und tröstlich waren, weil sie Gottes Fürsorge und Macht zum Ausdruck brachten, klangen jetzt hohl und verlogen.
Denn durch meine plötzliche Verstoßung (so kam es mir vor) wurden mein Vertrauen und meine Liebe zu meinen Eltern zutiefst erschüttert - und damit zugleich auch mein Glaube an Gott. Welchen Beweis für die Existenz Gottes gab es denn, so fragte ich mich fortwährend. Ich beschloss, die Frage ein für alle Mal durch ein Experiment zu klären: Im Gemüsegarten in Braefield pflanzte ich zwei Reihen Radieschen nebeneinander und forderte Gott auf, die eine - egal welche - zu segnen und die andere zu verfluchen, sodass ich einen deutlichen Unterschied würde ausmachen können. Beide Reihen Radieschen gediehen gleich, was ich als Beweis dafür ansah, dass es keinen Gott gab. Doch damit wurde meine Sehnsucht, an etwas zu glauben, nur noch größer.
Je länger die Prügel, das Hungern und die Quälereien andauerten, desto extremer wurden die psychologischen Mittel, zu denen wir in der Schule Verbliebenen getrieben wurden die Entmenschlichung und Entwirklichung unseres größten Peinigers. Manchmal, wenn er mich schlug, nahm ich ihn als gestikulierendes Skelett wahr (von zu Hause kannte ich Röntgenaufnahmen, Knochen in einer flüchtigen Hülle von Fleisch). Dann wieder sah ich ihn als gar nicht existent, als eine lediglich vorübergehende, senkrechte Ansammlung von Atomen. Ich sagte mir: «Der ist nichts als Atome» - und sehnte mich mehr und mehr nach einer «Nur-Atome»-Welt. Die Gewalttätigkeit, die von diesem Direktor ausging, schien manchmal das Ganze lebender Natur zu infizieren, sodass Gewalt für mich zum Grundprinzip des Lebens wurde.
Was konnte ich unter diesen Umständen anderes tun als mir eine Zuflucht zu suchen, einen Rückzugsort, an dem ich allein sein, an dem ich mich versenken konnte, ohne von anderen gestört zu werden, an dem ich ein Gefühl der Stabilität und Wärme finden konnte? Meine Situation glich wohl derjenigen, die Freeman Dyson in seinem autobiographischen Essay To Teach or Not to Teach beschreibt.
Ich gehörte zu einer kleinen Minderheit von Jungen, denen es an
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