Onno Viets und der Irre vom Kiez (German Edition)
Hünen. Der hockt breitbeinig auf Stuhl A von Tisch 5, benutzt allerdings die spinnwebenhaft zerborstene Scheibe des Schiffsfensters als Rückenlehne und die Rückenlehne des Stuhls als Lehne für den linken Arm. Die Rechte liegt auf dem Tisch, locker den Griff des Dolches umfassend. Aus all den Schlitzen im tätowierten Fleisch, unter gefärbten, gezeichneten Hautlappen hervor dringt unablässig rotes, rotes Blut, blutrotes Blut, die leibeseigene Droge des Lebens. Es sickert hervor und tropft herab, von den Hörnern herab rinnt es über die scheinbar offenen Augen, doch sind sie nicht offen, sie sind nur mit geöffneten Augen tätowiert, um den Schläfer gegen die Heimtücke der Welt auf immer und ewig zu impfen.
Volle zwei Minuten und drei Sekunden lang filmt Dagmar den Hünen. Filmt ihn, der bereits ins Koma gefallen ist – in dem er bis auf den heutigen Tag liegt. Filmt, wie ihm weitere mindestens zwei Liter Blut aus dem geöffneten Leib fließen. Die Schenkel hinabrinnen und über die Füße auf den Boden. Von beiden Ellbogen tropfen, und vom Maul des Aals. Volle zwei Minuten und drei Sekunden lang, in denen man nur Dagmars Atem wahrnimmt, Fliegengesumm, zwei, drei Wimmernester und das entfernte, unveränderte Knattern des Polizeihubschraubers.
Als die Uhr noch vierundvierzig Restsekunden anzeigt, kann man sehen, wie der Aal zu schwellen beginnt und, sich ausdehnend, im Vierziger-Puls-Takt zuckend aufsteht – fast wie zur unhörbaren Flöte eines Schlangenbeschwörers sich windend aufbäumt –, dann aber, bevor zu internationalen RedLight-Dimensionen entwickelt, wieder darniedersinkt, als greife bei all dem Blutverlust nun doch das Prinzip der kommunizierenden Röhren.
Und schließlich kann man sehen, wie von links eine Harpunenspitze ins Bild vordringt – anpeilend die bunte, blutende Brust des Hünen –, und dann die gesamte Harpune, vorgehalten von einem weiteren hünenhaften Fabelwesen, dieses glatt und glänzend schwarz wie eine Robbe, mit Helm und Visier und dicken Fühlern oder Schläuchen oder was immer ein Polizeitaucher so braucht.
Schnitt. Ende des halbstündigen Clips. Des vierten und letzten Teils von Dagmars Video, das trotz aller möglichen Verfügungen immer wieder auf obskuren Wegen im weltweiten Netz auftaucht (und übrigens nicht minder obskure Kommentare zeitigt).
Freitag, der 13. August. 12:11 Uhr.
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[Epilog]
Beim ersten (und einzigen) Mal, daß Edda diesen Film zu Gesicht bekam und schließlich, nach jenen geschlagenen fünfzig Minuten Irrwitz, ihren geliebten Mann da in der Blutlache liegen sah – als sie jenes grausige Stilleben sah, das Dagmar kurz fixierte, nachdem sie sich ihrer auf dem Boden gelandeten Kamera wieder bemächtigt hatte: glatzköpfiger Mann ohne Baskenmütze und mit Zauselbart, eine Hand verdreht unterm Steiß, eine auf dem rechten Schlüsselbein, im blutüberströmten Mittelgang –, da erlitt Edda einen Nervenzusammenbruch. Da schrie sie laut auf vor Entsetzen, schlug beide Hände vor den Mund und brach – hemmungslos, ja primitiv schluchzend wie ein Maultier – zusammen, und mindestens zehn Minuten lang ließ sie sich weder von Raimund noch von mir beruhigen. Und schon gar nicht von Onno, der doch direkt neben ihr saß. Und hilflos ihren krampfenden Rücken streichelte.
Inzwischen war es Mitte November geworden. Der Staatsanwalt hatte den komatösen Tibor Tetropov verschiedener Verbrechen angeklagt, von Sachbeschädigung über Diebstahl und Tierquälerei bis hin zu Freiheitsberaubung und Mordversuch in zig Fällen. Der Strafprozeß würde natürlich erst erfolgen können, wenn der Täter verhandlungsfähig wäre.
Außerdem hatten etliche Geschädigte Klage gegen den Täter eingereicht (da die Schuldfrage eindeutig war, konnte recht rasch ein Verfahrenspfleger bestimmt werden), u. a. auf die Zahlung von Schmerzensgeld, darunter Dagmar, Ellen und der Blinde. Ihr Mandat übernahm ich.
Onnos nicht. Onno hatte darauf verzichtet, sich der Sammelklage anzuschließen. Genauer gesagt, geweigert.
Es war ein viel zu lauer, verregneter Sonntagnachmittag, und wir saßen in meinem Büro, wo wir uns Dagmars Rohvideo (ungeschnitten und ohne Untertitel) anschauten. Ich hatte es bereits mehrfach studiert; Edda sowie Raimund noch nie und Onno, obwohl sein Arzt davon abgeraten hatte, einmal. Bei jenem ersten Mal war er unfähig gewesen, allzuviel dazu zu sagen. Hauptsächlich, daß er eine Gedächtnislücke hatte.
Sie begann, nachdem wir uns
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