Oper und Drama
oder sie war eine notwendig freiwillige, unreflektierte, und dann war die ermöglichende Kraft nicht der selbstbeschränkende Wille, sondern – die Liebe . – Dieselben Weisen und Gesetzgeber, welche die Ausübung der Selbstbeschränkung durch Reflexion forderten, reflektierten nicht einen Augenblick darüber, daß sie Knechte und Sklaven unter sich hatten, denen sie jede Möglichkeit der Ausübung dieser Tugend abschnitten, und doch waren diese in Wahrheit die einzigen, welche sich wirklich um eines anderen willen beschränkten, weil sie dazu gezwungen waren: unter sich bestand bei jener herrschenden und reflektierenden Aristokratie die Selbstbeschränkung nur in der Klugheit des Egoismus, die ihnen die Absonderung, das Unbekümmertsein um andere anriet, und dieses Gehenlassen anderer, das in äußerlichen, der Hochachtung und Freundschaft abgeborgten Formen sich einen ganz anmutigen Schein zu geben wußte, war ihnen gerade nur dadurch möglich, daß andre Menschen, eben als Knechte und Hörige, ihnen zu Gebote standen, die jene abgesonderte, wohlbegrenzte Selbständigkeit ihren Herren einzig ermöglichten. Wir sehen in der, jeden wahrhaften Menschen empörenden, furchtbaren Entsittlichung unsrer heutigen sozialen Zustände das notwendige Ergebnis der Forderung einer unmöglichen Tugend, die schließlich durch eine barbarische Polizei geltend erhalten wird. Nur das gänzliche Verschwinden dieser Forderung und der Gründe, aus denen sie gestellt wurde – nur die Aufhebung der unmenschlichsten Ungleichheit der Menschen in ihrer Stellung zum Leben kann den gedachten Erfolg der Anforderung der Selbstbeschränkung herbeiführen, und zwar durch die Ermöglichung der freien Liebe . Die Liebe aber führt jenen gedachten Erfolg in unermeßlich erhöhtem Maße herbei, denn sie ist eben nicht Selbst beschränkung , sondern unendlich mehr, nämlich – höchste Kraftentwickelung unsres individuellen Vermögens – zugleich mit dem notwendigsten Drange der Selbstaufopferung zugunsten eines geliebten Gegenstandes . –
Wenden wir nun diese Erkenntnis auf den vorliegenden Fall an, so sehen wir, daß Selbst beschränkung des Dichters wie des Musikers in ihrer höchsten Konsequenz den Tod des Dramas herbeiführen, oder vielmehr seine Belebung gar nicht erst ermöglichen würde. Sobald Dichter und Musiker sich gegenseitig beschränkten, könnten sie nichts anderes vorhaben, als jeder seine besondere Fähigkeit für sich glänzen zu lassen, und da der Gegenstand, an dem sie diese Fähigkeiten zum Glänzen brächten, eben das Drama wäre, so würde es diesem natürlich wie dem Kranken zwischen zwei Ärzten gehen, von denen jeder seine Geschicklichkeit nach einer entgegengesetzten Richtung der Wissenschaft hin zeigen wollte: der Kranke würde bei der besten Natur zugrunde gehen müssen. – Beschränken sich Dichter und Musiker nun gegenseitig aber nicht, sondern erregen sie in der Liebe ihr Vermögen zur höchsten Macht, sind sie in der Liebe somit ganz, was sie irgend sein können, gehen sie in dem sich dargebrachten Opfer ihrer höchsten Potenz gegenseitig in sich unter – so ist das Drama nach seiner höchsten Fülle geboren. –
Ist die dichterische Absicht – als solche – noch vorhanden und merklich, so ist sie im Ausdrucke des Musikers noch nicht untergegangen, d. h. verwirklicht; ist aber der Ausdruck des Musikers – als solcher – noch kenntlich, so ist er auch von der dichterischen Absicht noch nicht erfüllt; und erst wenn er in der Verwirklichung dieser Absicht als ein Besonderes, Merkliches untergeht, ist weder Absicht noch Ausdruck mehr vorhanden, sondern das Wirkliche, was beide wollten , ist gekonnt , und dieses Wirkliche ist das Drama, bei dessen Vorführung wir weder an Absicht noch Ausdruck mehr erinnert werden sollen, sondern dessen Inhalt als eine, vor unsrem Gefühle als notwendig gerechtfertigte, menschliche Handlung uns unwillkürlich erfüllen soll.
Erklären wir dem Musiker daher, daß jedes, auch das geringste Moment seines Ausdruckes, in welchem die dichterische Absicht nicht enthalten , und welches von ihr zu ihrer Verwirklichung nicht als notwendig bedingt ist, überflüssig, störend, schlecht ist; daß jede seiner Kundgebungen eine eindruckslose ist, wenn sie unverständlich bleibt, und daß sie verständlich nur dadurch wird, wenn sie die dichterische Absicht in sich schließt; daß er, als Verwirklicher der dichterischen Absicht aber ein unendlich Höherer ist, als er in seinem
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