Operation Amazonas
ähnlich der Schießscharte einer Burg, durch das heller Sonnenschein einfiel.
Kelly und Kouwe stapften hinter ihrem Führer den Wendelgang hinauf. Der Holzboden war glatt, bot aufgrund seiner Beschaffenheit aber ausreichend Halt. Trotz der mäßigen Steigung begann Kelly bald zu schnaufen. Das Adrenalin und die Angst aber hielten sie in Bewegung: Angst um ihren Bruder, Angst um ihrer aller Leben.
»Der Gang scheint natürlichen Ursprungs zu sein«, murmelte hinter ihr Kouwe. »Die Glattheit der Wände, die Regelmäßigkeit der Spirale. Das ist nicht Menschenwerk, sondern ein Kanal.«
Kelly leckte sich die Lippen, brachte aber kein Wort hervor. Zu müde, zu verängstigt. Die Bemerkung des Professors lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Boden und die Wände. Jetzt fiel auch ihr auf, dass der Gang keinerlei Axt- und Meißelspuren aufwies. Bloß die grob behauenen Fensteröffnungen waren eindeutig Menschenwerk. Der Unterschied war offensichtlich. Hatte der Stamm den gewundenen Kanal durch Zufall entdeckt und ihn sich zunutze gemacht? Die Hütten, die sie unterwegs gesehen hatte, bewiesen, dass die Ban-ali tüchtige Handwerker waren und es verstanden, Natur und Menschenwerk unter einen Hut zu bringen. Vielleicht traf das auch auf diesen Baum zu.
Plötzlich bemerkte der Professor: »Die Fliegen sind verschwunden.«
Kelly blickte sich über die Schulter um. Der sich von den blutgetränkten Verbänden ihres Bruders nährende Fliegenschwarm war tatsächlich verschwunden.
»Die Insekten sind abgezogen, kurz nachdem wir den Baum betreten haben«, meinte Kouwe. »Offenbar sondert das Holz hochwirksame ätherische Öle ab.«
Auch Kelly war der Moschusduft bereits aufgefallen. Er erinnerte sie vage an getrocknete Eukalyptusblätter, ein medizinischer, angenehmer Geruch, jedoch mit einer dunkleren, erdigen Note.
Sich über die Schulter umblickend, sah Kelly, wie stark die Verbände ihres Bruders mit Blut durchtränkt waren. In Anbetracht des ständigen Blutverlusts würde er nicht mehr lange durchhalten. Irgendetwas musste geschehen. Eiseskälte breitete sich in ihren Adern aus. Trotz ihrer Erschöpfung wurde sie schneller.
Als sie höher kamen, tauchten in der Tunnelwand Öffnungen auf. Kelly bemerkte, dass die Nebengänge entweder in eine der hüttenähnlichen Behausungen oder auf Äste von der Breite einer Garageneinfahrt führten.
Und sie stiegen immer noch höher.
Trotz der Sorge um Frank geriet Kelly allmählich ins Stolpern. Die Beine wurde ihr schwer, sie atmete keuchend, die Augen brannten vom Schweiß. Am liebsten hätte sie sich einen Moment ausgeruht, wagte es aber nicht, die Trage abzusetzen.
Ihr Führer bemerkte, dass sie immer weiter zurückblieben. Er kehrte um und machte sich ein Bild von der Lage. Er trat neben Kelly.
»Ich helfen.« Er schlug sich mit der Faust an die Brust. »Ich stark.« Er stieß sie beiseite und übernahm die Trageholme.
Sie war zu schwach, um Einwände zu erheben, zu sehr außer Atem, um sich zu bedanken.
Kelly trat beiseite, und die beiden Männer stiegen weiter in die Höhe, schneller als zuvor. Kelly ging neben der Trage her. Frank war ganz blass, sein Atem ging flach. Von der Last befreit, konzentrierte Kelly sich wieder ganz auf ihren Bruder. Sie holte das Stethoskop hervor und horchte ihm die Brust ab. Sein Herz pochte dumpf, in der Lunge rasselte es. Sein Zustand verschlechterte sich rasch, näherte sich dem hypovolämischen Schock. Die Blutungen mussten unbedingt gestillt werden.
Ganz von der Sorge um ihren Bruder in Anspruch genommen, bemerkte sie zunächst nicht, dass sie das Tunnelende erreicht hatten. Der Spiralgang endete unvermittelt vor einer Öffnung ähnlich der am Fuße des Riesenbaums. Dieser Durchgang führte jedoch nicht in den Sonnenschein hinaus, sondern in einen höhlenartigen Raum mit tellerartig gewölbtem Boden.
Kelly riss staunend die Augen auf. Auch dieser Raum wurde durch primitiv behauene schießschartenähnliche Öffnungen erhellt. Er war kreisförmig und maß etwa dreißig Meter im Durchmesser, eine Blase im Holz, die zur Hälfte aus dem eigentlichen Stamm vorsprang.
»Das ist eine riesige Galle«, sagte Kouwe. Als Gallen bezeichnete man die Auswüchse, die bisweilen bei Eichen und anderen Bäumen gefunden und durch Insekten oder Parasiten hervorgerufen wurden.
Kelly fand den Vergleich treffend. Diese Galle aber war nicht von Insekten bewohnt. An Pflöcken in den gebogenen Wänden waren mindestens ein Dutzend gewebte Hängematten aufgehängt. Darin lagen
Weitere Kostenlose Bücher