Operation Amazonas
Auge, der im Sonnenschein hell leuchtete. Es handelte sich um einen großen, vom langen Gebrauch ganz glatt gewordenen Stab aus Schlangenholz, an dessen Spitze ein Büschel HokoFedern angebracht war.
Plötzlich hatte Nate das Gefühl, der Boden unter seinen Füßen geriete ins Schwanken.
Dies war der Wanderstab seines Vaters.
Nate ließ das Fernglas sinken und taumelte auf die Hütte zu.
»Rand!«, rief Kostos ihm nach.
Nate aber hörte ihn gar nicht. Seine Füße begannen von selbst zu laufen. Die anderen folgten ihm, darum bemüht, die Gruppe zusammenzuhalten. Zane und Olin mühten sich schimpfend mit der Trage ab.
Nate kam vor der Hütte rutschend zum Stehen. Ihm stockte der Atem. Mit trockenem Mund starrte er den Wanderstab an. Ins Holz waren Initialen eingeschnitzt: C. R.
Carl Rand.
Tränen stiegen Nate in die Augen. Nach dem Verschwinden der Expedition hatte Nate sich geweigert, an den Tod seines Vaters zu glauben. Um nicht zu verzweifeln und die jahrelange Suche durchstehen zu können, hatte er sich an seine Hoffnung geklammert. Nicht einmal dann, als seine finanziellen Mittel erschöpft waren und er sich eingestehen musste, dass sein Vater tot war, hatte er geweint. Die Trauer hatte sich im Laufe der Zeit zu einer tiefen Depression verdichtet, einer finsteren Grube, die sein Leben in den vergangenen vier Jahren verschlungen hatte.
Jetzt aber, da er endlich einen handfesten Beweis vor Augen hatte, dass sein Vater hier gewesen war, strömten ihm die Tränen über die Wangen.
Nate erwog gar nicht erst die Möglichkeit, dass sein Vater noch am Leben sein könnte. Solche Wunder gab es nur in Romanen. Man sah der Hütte an, dass sie seit langem unbewohnt war. An der Vorderseite hatte der Wind Laub angehäuft, und Fußspuren waren keine zu erkennen.
Nate trat vor und schob den Vorhang beiseite. Im Innern der Hütte war es dunkel. Er nahm die Taschenlampe aus der Tasche seiner Feldjacke und schaltete sie ein. Eine schwanzlose Ratte, ein Paca , huschte durch eine Lücke in der gegenüberliegenden Wand. In der dicken Staubschicht zeichneten sich Spuren winziger Füße ab. Rattenkot bedeckte den Boden.
Nate schwenkte die Taschenlampe umher.
An der rückwärtigen Wand waren vier Hängematten an den Deckenbalken befestigt, alle leer und unbenutzt. Davor stand eine kleine Werkbank aus Holz, auf der Laborausrüstung ausgebreitet war, darunter auch ein Laptop.
Nate kannte das kleine Mikroskop und die Probengläser. Die Ausrüstung hatte seinem Vater gehört. Er trat in die Hütte hinein und klappte den Laptop auf. Als sich der Rechner summend einschaltete, schreckte Nate zurück.
»Die Solarzellen«, sagte Manny vom Eingang her. »Anscheinend liefern sie noch immer Strom.«
Nate wischte sich die Spinnweben von den Händen. »Mein Vater war hier«, murmelte er benommen. »Das ist seine Ausrüstung.«
»Der Indianer kommt zurück«, meinte hinter ihm Kouwe. »In Gesellschaft.«
Nate starrte noch einen Moment den Laptop an. Staubteilchen schwebten in der Luft und leuchteten in den Strahlen der Morgensonne, die durch den offenen Eingang fielen. Es roch nach Holzölen und verdorrten Palmwedeln aber auch nach Asche und Alter. Seit mindestens einem halben Jahr wohnte hier niemand mehr.
Was war aus den Expeditionsteilnehmern geworden?
Nate wischte sich die Tränen aus den Augen und wandte sich zum Eingang um. Der schwarz bemalte Indianer näherte sich der Hütte. Ihn begleitete ein kleinerer Mann. Er war höchstens einszwanzig groß. Abgesehen von einem auffallenden roten Zeichen auf dem Bauch und dem schon vertrauten blauen Handabdruck oberhalb des Nabels war seine glänzende Haut unbemalt.
Nate trat in den Sonnenschein hinaus und gesellte sich zum Rest der Gruppe.
Der Neuankömmling hatte ähnlich wie die Yanomami Federn in den durchbohrten Ohrläppchen stecken. Zusätzlich aber trug er ein Stirnband, in dessen Mitte ein Insekt befestigt war. Der schwarze Panzer schimmerte. Es handelte sich um eine der Fleisch fressenden Heuschrecken, die Corporal Jorgensen getötet hatten.
Professor Kouwe blickte Nate an. Auch sein Freund hatte den seltsamen Kopfschmuck registriert. Dies war ein weiterer Hinweis darauf, dass der nächtliche Angriff tatsächlich von dieser Siedlung ausgegangen war.
Nate hatte das Gefühl, ein Messer bohre sich in seine Eingeweide. Dieser Stamm war für den Tod der Hälfte der Suchmannschaft verantwortlich und hatte die Überlebenden der Expedition seines Vaters vier Jahre lang gefangen gehalten. Zorn und Trauer
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