Operation Arche - 1
Weitem nicht das erste Mal, dass er die Heilige Schrift einsah, doch er empfand dieses Buch immer wieder als faszinierend – in der Art und Weise, wie ein Detektiv in einem Mordfall es als faszinierend empfinden mochte, die Autobiographie eines sadistischen Serienmörders zu lesen, den er in seiner Kindheit persönlich gekannt hatte. Es gab vielerlei Aspekte der Moral-Lehre dieser ›Religion‹, an der Merlin nichts auszusetzen hatte, so sehr er das auch eigentlich gerne getan hätte. Maruyama Chihiro hatte sich ausgiebig bei bereits existierenden Religionen bedient, und die Kernaussagen seiner ›Heiligen Schrift‹ wären fast allen Theologen von Terra doch äußerst vertraut erschienen. Das ist auch weitergehend unvermeidbar, sinnierte Merlin, denn eine stabile Gesellschaft benötigt ein robustes Fundament aus Regeln und Gesetzen, die von allen, die in dieser Gesellschaft leben, auch ohne jeden Zweifel akzeptiert werden. In der gesamten Menschheitsgeschichte hatte die Religion stets eine der ersten Urquellen eben dieser Legitimation dargestellt, und es war genau dieser Teil der Heiligen Schrift, der Geistliche wie Bischof Maikel hervorgebracht hatte.
Doch die Religionen, aus denen Maruyama seine grundlegenden Gebote und Moral-Unterweisungen genommen hatte, waren stets das Produkt eines ehrlichen Bemühens gewesen, Gott – oder welche höheren Mächte ihre Anhänger auch immer gesucht hatten – zu verstehen oder zumindest zu konzeptualisieren. Für die grundlegenden Schriften der Kirche des Verheißenen galt das nicht. Sie waren eine bewusst angefertigte Fälschung, die ihren Anhängern durch Individuen aufgezwungen worden waren, deren Handeln im unmittelbaren Widerspruch zu den Prinzipien und Glaubenskonzepten all der Religionen gestanden hatte, mit denen sie selbst aufgewachsen waren. Es war eine einzige Lüge, die sich des Bedürfnisses eines jeden Menschen bediente, nach Gott zu suchen, welchen Namen er auch immer tragen mochte – eines Bedürfnisses, das der Mensch zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte verspürt hatte. Und diese Lüge diente nicht nur dazu, über diese Menschen zu herrschen, sondern sie auch zu programmieren. Diese Religion hatte zugleich das Ziel, jeglichen Sinn für Forschung und Zweifel auszumerzen, der dieses betrügerische Gesellschaftsmuster bedrohen mochte, den Eric Langhorne und Adoree Bédard-Ordens sich zurechtgelegt hatten, um jegliche zukünftige Gesellschaft der Menschheit in eine Form zu zwängen, die sie als gut und richtig empfunden hatten.
Merlin hatte zugeben müssen, dass Langhorne, Bédard-Ordens und Murayama gemeinsam mit ihrer Heiligen Schrift gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen hatten. Er blätterte zu den ersten Seiten des Folianten zurück und verzog das Gesicht, als er erneut das Inhaltsverzeichnis überflog. Das Buch Langhorne, Das Buch Bédard, Das Buch Pasquale, die Bücher Sondheim, Truscott, Schueler, Jwo-jeng, Chihiro, Andropov, Hastings.
Die Liste nahm gar kein Ende mehr: Jedes Buch war einem dieser ›Erzengel‹ zugeschrieben. Die Heilige Schrift enthielt keinerlei Evangelien, die Sterbliche abgefasst hätten. Derartige von Menschenhand angefertigte Schriften gab es natürlich auch, in Form der Kommentare und der Erkenntnisse, ganz zu schweigen von den Offenbarungen, und auch sie gehörten zu den heiligen Schriften und der Autorität der Kirche des Verheißenen. Doch keine dieser nur von Menschen abgefassten Schriften vermochten es an Gültigkeit und an zentraler Bedeutung mit der Heiligen Schrift selbst aufzunehmen, denn im Gegensatz zu ersteren war jedes einzelne Wort der Heiligen Schrift durch Gottes unsterbliche Engel unmittelbar aus Seinem Munde überliefert.
Die Heilige Schrift war auch nicht nur ein Werkzeug zur sozialen Beherrschung der Menschen von Safehold. Das Buch Langhorne befasste sich mit dem ›Gesetz Gottes‹, so wie es die Kirche des Verheißenen lehrte. Innerlich stand Merlin mehrmals kurz davor, sich zu übergeben, als er diese in den Mantel der Liebe gekleideten Halbwahrheiten und schlichten Lügen durcharbeitete, aus denen Langhorne – oder zumindest Murayama, der das Werk in Langhornes Auftrag abgefasst hatte – diese Zwangsjacke hatte weben können, in die er dann sämtliche Bewohner von Safehold steckte. Und Das Buch Bédard war für Merlin mindestens ebenso schwer verdaulich: ein Meisterwerk der Psychologie im Dienste von Täuschung und Gedankenbeherrschung, das sich auch noch mit dem Untertitel ›Das
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