Operation Blackmail
allem auf den unteren Bereich, so ein
Scharfschützengewehr ist recht unhandlich. Ich könnte mir vorstellen, dass er
es in einer Sporttasche oder Ãhnlichem transportiert hat.«
Solveigh betrachtete jede Schramme im Holz. Alte waren staubig, und
das ungeschützte Holz war oxidiert, sodass es gräulich-braun und dumpf aussah,
eine neuere Macke wäre deutlich heller. »Hier ist tatsächlich ein frischer
Kratzer, Professor.«
»Messen Sie vom Boden aus exakt die Höhe, dann können Sie reingehen.
Mehr wird hier nicht zu holen sein«, ordnete Bennett an.
Als sie die verzogene Holztür öffnete, schlug ihr der süÃlich-modrige
Geruch eines alten Ehepaars entgegen. Stoffe, die Jahrzehnte die immergleiche
Luft atmeten, eine Mischung aus fremden Körpern und Duftwässern mit goldenen
Etiketten. Einen kurzen, aber heftigen Würgereiz unterdrückend, betrat sie die
Wohnung, den Blick konzentriert vor ihre FüÃe gerichtet, um keine Spuren zu
übersehen oder, noch schlimmer, durch ihre eigenen Schritte zu zerstören.
Nachdem sie sich an den Geruch gewöhnt hatte, atmete sie tiefer ein: Da war
noch etwas anderes. Tabak, eine starke Sorte, und er roch frisch. Aber die
Fakten gingen vor. Sie stand in einem langen Flur, von dem drei Zimmer nach
rechts abgingen, die zur StraÃe lagen. Die Wohnung war geschmackvoll
eingerichtet, wenn auch etwas altmodisch. Offensichtlich waren die Bewohner
schon geraume Zeit ausgeflogen, Möbel und Boden waren verstaubt, und vor der
Eingangstür lagen jede Menge Flyer lokaler Geschäfte: Werbung für ein
Sushirestaurant, Pizzalieferdienste, ein Copyshop. Komisch, dachte Solveigh,
jede Menge Flyer, aber keine Post. Sie ging zurück zur Tür und bat Dominique,
unten nach dem Briefkasten der Wohnung zu schauen.
»Aus welchem Zimmer hat er noch mal geschossen, Eddy?«, fragte
Solveigh, als sie wieder im Flur stand.
450 Kilometer weiter nördlich scrollte Eddy auf seinem Bildschirm in
dem Polizeibericht an die entsprechende Stelle. »Das mittlere auf der rechten
Seite.«
»Okay. Dann fange ich mit Badezimmer und Küche links an.
Einverstanden, Professor?«
»Ich sehe, Sie erinnern sich. Freut mich, dass mein Kurs Früchte
getragen hat«, antwortete Bennett.
Vor sechs Jahren hatte Solveigh von ihm gelernt, wie man einen
Tatort untersucht, Antworten aus ihm herauskitzelt, zu denen man nicht einmal
die Fragen kannte. Und dass man immer von auÃen nach innen, von unwichtig zu
wichtig arbeitete, war eine der ersten Lektionen. »Identifiziere das
Gewöhnliche, indem du denkst wie der Bewohner, finde das Ungewöhnliche, indem
du denkst wie der Täter«, hatte Bennett damals doziert. Folglich fing Solveigh
in Paris mit dem Badezimmer an, denn sie glaubte nicht, dass der Schütze
zwischendrin seine Notdurft hier verrichtet hatte.
»Die Toilette sieht unbenutzt aus, aber vielleicht musste er lange
warten. Ich mache sicherheitshalber einen Abstrich«, protokollierte Solveigh
ihr Vorgehen.
Mit ruhiger Hand zog sie ein übergroÃes Wattestäbchen und ein
Plastikröhrchen aus ihrer Tasche, strich über den Toilettensitz und isolierte
es in dem kleinen Behältnis. Vom Waschbecken pickte sie vorsichtig ein Haar mit
einer Pinzette auf und verstaute es ebenso in einem der Röhrchen, das sie
peinlich genau beschriftete. Danach nahm sie sich mit der gleichen Sorgfalt
Küche, Schlafzimmer und Wohnzimmer vor, bis sie sich zum wichtigsten Raum
vorgearbeitet hatte.
»Ich begebe mich jetzt in das Zimmer, aus dem geschossen wurde, es
handelt sich um den Essbereich der Wohnung mit einem groÃen Tisch in der Mitte.
Glücklicherweise kein Teppichboden.«
Im Kopf legte Solveigh ein Schachbrettmuster über den FuÃboden, das
sie Bahn für Bahn ablaufen würde. So suchte sie systematisch jeden
Quadratzentimeter ab und stellte sicher, dass sie keinen noch so kleinen
Hinweis übersah. Die hochauflösende Kamera in ihrer Brille filmte dabei jede
Sekunde, die Daten wurden als Protokoll auf den Servern der ECSB gespeichert.
Früher hatte man alles mühsam fotografieren müssen, aber die moderne HD-Technik
machte Einzelaufnahmen überflüssig, mittlerweile hatten bewegte Bilder die
gleiche Qualität wie Fotografien. Dennoch war die Arbeit zäh und mühselig,
immer wieder musste sie unter den Tisch kriechen, kleinste Partikel aufsammeln
oder erkennen, dass es sich doch nur
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