Operation Romanow
Stimmung. Er schob eine Hand in die Tasche seines Morgenrocks und blickte durch die bleiverglasten Fenster auf den Nachthimmel, den Explosionen erhellten. »Nehmen Sie Platz, Walter. Es hört sich so an, als erwartete unsere Luftabwehr eine anstrengende Nacht. Kaffee oder Tee? Bedienen Sie sich bitte.«
»Danke. Ich nehme Kaffee. Verzeihen Sie, dass ich Sie geweckt habe, Majestät«, erwiderte Page mit seinem leicht nasalen Südstaatenakzent höflich.
»Sie sagten meinem Privatsekretär am Telefon, es sei äußerst dringend.« Der König spähte auf die Aktentasche, die der Botschafter bei sich trug. »Ein bisschen dramatisch diese Handschellen, nicht wahr, Walter?«
»Ich nehme an, Sie werden es verstehen, wenn ich es Ihnen erklärt habe, Majestät.«
Page zog einen Schlüssel aus seiner Weste und schloss die Aktentasche auf. Er nahm ein Couvert heraus, aus dem er ein Blatt Papier fischte, und faltete es auseinander. »Ich habe um zwei Uhr in der Nacht einen Anruf von Präsident Wilson erhalten. Unser Gespräch betraf ein geheimes Telegramm, das der Präsident vor seinem Anruf bei mir an mein Büro geschickt hatte. Er befahl mir, Ihnen den Inhalt persönlich zu überbringen. Zudem wies er mich an, mit Ihnen über einige ernste Angelegenheiten zu sprechen. Ich habe das entschlüsselte Telegramm hier. Möchten Sie es vielleicht sehen, Majestät?«
Der König runzelte die Stirn, nahm das Blatt in die Hand und begann zu lesen.
Von: Präsident Wilson
Dringender Bericht an Seine Majestät
Unser Agent mit dem Codenamen Dmitrij bestätigt, dass die gesamte Zarenfamilie – Zar Nikolaus, seine Gattin Alexandra, die Töchter Olga, Maria, Tatjana, Anastasia und der Sohn Alexej – seit dem 23. Mai in der sibirischen Stadt Jekaterinburg wieder vereint ist, nachdem sie in Tobolsk getrennt worden war.
Dmitrij hat diese Information von einem verlässlichen, hochrangigen sowjetischen Funktionär erhalten, der glaubt, dass die Bolschewisten die Absicht haben, den Zaren und seine Familie trotz geheimer Verhandlungen mit den Alliierten hinzurichten. Informieren Sie Seine Majestät über die anderen Punkte, die einer Erörterung bedürfen. Ich erwarte eine Bestätigung, dass meine Anweisungen befolgt wurden.
Der König hob den Blick. »Sind Sie sicher, dass diese Botschaft Nikki und seine Familie betrifft?«, fragte er in heiserem Ton. »Es ist bekannt, wie unzuverlässig Telegrafen sein können.«
»Die Nachricht wurde drei Mal verschickt, um jedes Missverständnis auszuschließen.«
Der König seufzte und gab dem Botschafter das Blatt zurück. »Wenn Sie mir die Frage erlauben: Wer zum Teufel ist Dmitrij?«
»Unser Topagent in Russland. Es ist ihm gelungen, über eine gewisse Zeit Kontakt zu den Romanows zu pflegen. Er hat sich mit der Großfürstin Anastasia angefreundet, ehe die Roten die Familie gefangen genommen haben.«
»Der Mann scheint lebensmüde zu sein, wenn er sich in diesen gefährlichen Zeiten in Russland herumtreibt!«
In Russland hielten sich ebenso Agenten aus den Vereinigten Staaten wie aus England und Deutschland auf. Seit der Februarrevolution im Jahr zuvor hatten die Staaten Dutzende von Geheimagenten in das Land geschickt, damit sie über den drohenden Bürgerkrieg auf dem Laufenden gehalten wurden.
Der König trank einen Schluck von dem dampfenden Tee, den er sich eingeschenkt hatte. »Nicht, dass ich viel über unsere Agenten wüsste. Manchmal glaube ich, mein Premierminister hält mich absichtlich im Unklaren, weil er Angst hat, dass ich einschreite. Stimmt das, was dieser Dmitrij über die Zarenfamilie berichtet?«
»Mir wurde gesagt, dass wir dieser Information vertrauen können, Sir. Lenin steht unter gewaltigem Druck, denn er muss an allen Fronten kämpfen. Und verzweifelte Männer ergreifen verzweifelte Maßnahmen. Zudem haben sich die Berichte unseres Agenten in der Vergangenheit als höchst zuverlässig erwiesen. Seine Informationsbeschaffung ist erstklassig.«
»Das verwirrt mich. Nikki mag nicht der weiseste Herrscher sein, aber meines Erachtens war er immer ein rechtschaffener Mann.«
Page interessierte sich persönlich nicht allzu sehr für das Schicksal des russischen Zaren. Er war der Meinung, dass sich nun das rächte, was sich in der jüngsten Vergangenheit des Landes abgespielt hatte. In Diplomatenkreisen genoss der Zar den Ruf, ein recht ehrbarer Mann zu sein. Page hielt ihn jedoch für einen charakterschwachen Dummkopf, der es zugelassen hatte, sich von Russlands korrupter
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