Operation Romanow
Blick auf Stanislaws Leichnam, ehe er Tarku am Kragen packte und mit ihm auf den Zug zurannte.
Es war kurz nach Mitternacht, als Jakow das laute Klopfen an seiner Wagentür hörte. Mit Stiefeln und Mantel bekleidet lag er in seinem Schlafabteil auf dem Feldbett und döste. Als das Klopfen lauter wurde, stand er auf. »Ich komme ja schon. Immer mit der Ruhe!«
Jakow rieb sich den Schlaf aus den Augen, ging zur Tür und riss sie auf. Zwei seiner Rotgardisten standen dort, neben ihnen ein aschfahler Offizier.
»Kommissar. Bitte … bitte kommen Sie!«
Jakow sprang aus dem Waggon und schlug den Kragen seines langen Wintermantels hoch, um sich vor der Kälte zu schützen. Ihre Schritte knirschten im Schnee, als er dem Offizier und den Rotgardisten folgte und sie schnell auf das Ende des Zuges zusteuerten.
»Was zum Teufel ist hier los?«, fragte Jakow. Das Lager war hell erleuchtet und von Lärm erfüllt. Die Wachen hatten die Gefangenen geweckt, sie mit Gewehrkolben geschlagen und aus den Baracken heraus in den Schnee getrieben. Dort mussten sie sich in Reihen aufstellen, um gezählt zu werden.
Der Offizier beschleunigte seine Schritte. »Es sieht so aus, als wären Andrew und sein Unteroffizier geflohen! Die Wachleute sagen, dass die beiden auf Ihren Befehl hin mit Ihrem Bruder das Westtor passiert haben. Jetzt sind sie verschwunden.«
Jakow presste die Lippen aufeinander. »Was?«
»Wir befürchten, dass die Gefangenen auf den Zug gesprungen sind, der vor fünf Minuten hier vorbeigefahren ist. Wir führen eine Zählung durch, um zu überprüfen, ob sie alleine geflohen sind.«
Jakow kochte vor Wut. »Dafür wird jemand teuer bezahlen! Wenn es sein muss, stelle ich ihn vor ein Erschießungskommando!«
»Kommissar, wir heizen in diesem Augenblick den Kessel ein. Der Lokführer sagt, dass Ihr Zug in fünfzehn Minuten abfahrbereit ist.«
»Wenn wir sie einholen wollen, muss er sich beeilen!«
Als sie das Ende des Zuges erreichten, sah Jakow, dass seine Rotgardisten einen Kreis gebildet hatten. Ein paar von ihnen hielten Petroleumlampen in den Händen. Einige schienen vollkommen aufgelöst. Jakow sah die Angst in ihren Augen, als er sich ihnen näherte.
Er stemmte die Hände in die Hüften und starrte die Männer wütend an. »Warum stehen Sie hier alle herum wie die Dummköpfe?«
»Kommissar«, begann der Offizier zögerlich. »Zwei unserer Männer wurden von Andrew angegriffen, als er geflohen ist. Feldwebel Mersk hat er beinahe erwürgt und einen anderen Mann erstochen.«
Die Männer machten Platz, sodass Jakow Mersk sehen konnte, der sich an einem Wagen abstützte. Er massierte sich mit hasserfüllter Miene den Hals. Einer der Wachleute senkte seine Sturmlampe, worauf der gelbe Lichtkegel auf einen Körper fiel, der mit verdrehten Gliedmaßen im Schnee lag.
»Stanislaw …« Ungläubig stammelte Jakow den Namen seines Bruders, der mit totenbleichem Gesicht vor ihm im Schnee lag. Seine Kehle schnürte sich zu, sein Herzschlag setzte aus, und er bekam kaum Luft: Der Mantel seines Bruders war auf dem Rücken mit Blut durchtränkt.
»Das war Andrew, Kommissar«, stieß Mersk in heiserem Ton aus. »Er wollte mich erwürgen. Ich bin fast ohnmächtig geworden. Er hat mein Messer genommen und Ihren Bruder wie ein Schwein abgestochen, bevor er mit Unteroffizier Tarku geflohen ist.«
Wie vom Donner gerührt stand Jakow da. Einen kurzen Augenblick sah es so aus, als begriffe er nicht, was geschehen war. Schließlich sank er auf die Knie, drückte Stanislaw an seine Brust und wiegte ihn in den Armen. »Großer Gott, nein …«, flüsterte er mit gebrochener Stimme.
Als hätte sich eine schreckliche Wunde geöffnet, warf Jakow den Kopf zurück und begann zu stöhnen. Ein qualvoller Schrei drang aus der Tiefe seiner Seele und hallte endlos durch die eisige Nacht.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2013
ZWEITER TEIL
15. KAPITEL
Buckingham-Palast, London
In den frühen Morgenstunden des 28. Mai 1918 regnete es, und es war noch dunkel, als die uniformierten Garden gegen halb vier Uhr früh den dunkelgrünen Rolls-Royce durch die Tore des Buckingham-Palasts winkten. Die Wagenräder rollten über das nasse Kopfsteinpflaster. Der Chauffeur lenkte das Fahrzeug zur Rückseite des Palastes und stoppte auf einem Hof. Dann stieg er aus und öffnete die Beifahrertür, worauf ein kleiner Mann mit kränklicher Miene, hervorquellenden Augen und einer langen Nase in den Regen trat.
Er trug
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