Operation Schneewolf - Meade, G: Operation Schneewolf - Snow Wolf
einem anderen Zimmer klingelte und der Kommandant nach draußen gerufen wurde, bemerkte Anna Chorjowa die Landkarte an der Wand. Irgend etwas setzte sich in ihren Gedanken fest. Sie starrte die Karte unentwegt an. Es war ein Reliefbild der Gegend um das Lager, mit Geländeangaben und eingezeichneten Grenzposten. Die Straße war ebenso darauf vermerkt wie Militärbasen und zivile Gefangenenlager, die mit kleinen roten und blauen Fähnchen markiert waren. Anna trat dichter an die Karte heran, starrte ungefähr fünf Minuten eindringlich darauf und brannte sich jede Einzelheit ins Gedächtnis.
Als der Kommandant sie schließlich fortschickte, ging Anna in ihre Baracke zurück. Sie nahm ein Stück Holzkohle aus dem Metallofen und zeichnete die Landkarte, so gut sie sich erinnern konnte, auf die Rückseite des Briefes mit der Nachricht vom Tod ihres Mannes. Jede Einzelheit, die ihr einfiel, jede Straße und jeden Fluß, jedes blaue und rote Fähnchen.
An diesem Abend aß sie ihre erste Mahlzeit seit Tagen. Und in dieser Nacht faßte sie einen Entschluß. Sie wußte, daß sie ihre Tochter nie wiedersehen und ihr Leben nie mehr so sein würde wie zuvor. Aber sie wollte nicht in dieser Eiswüste am Polarkreis krepieren, und sie würde keine Gefangene bleiben.
Das Grenzgebiet zu Finnland war eine Landschaft aus dichtem Wald und Hügeln, in denen es von Wölfen und Bären wimmelte, und die vor eisigen Kämmen und breiten, gefrorenen Flüssen nur so strotzte. Der Versuch, im Winter durch ein solches Terrain zu entkommen, kam einem Selbstmord gleich. Die zugänglichsten Pässe waren bewacht, aber trotzdem boten sie die beste Chance, selbst wenn es äußerst gefährlich war. Anna wußte nicht, was hinter der finnischen Grenze auf sie wartete, aber sie wußte, daß sie aus diesem unmenschlichen Lager entkommen mußte.
Ihr war ein Lageroffizier aufgefallen, ein grober, lüsterner Mann mittleren Alters, der das Risiko einging, mit weiblichen Gefangenen zu verkehren und Extra-Essensrationen gegenSex einzutauschen. Anna hatte bemerkt, wie der Mann sie beobachtete. Sie erkannte an seinem lüsternen Grinsen, daß er ihren Körper wollte. Sie ließ ihn wissen, daß sie käuflich war.
Der Offizier kam drei Nächte später zu ihr, nach Einbruch der Dunkelheit. Sie trafen sich in einem kleinen Holzschuppen am anderen Ende des Lagers. Anna hatte den Tag genau geplant, weil der Offizier am nächsten Tag dienstfrei hatte.
Sie wartete, bis er sie entkleidet hatte. Als er dann seinen Mantel ablegte und an ihren Brüsten saugte, jagte sie ihm eine zwölf Zentimeter lange Metallklinge in den Rücken. Sie hatte drei Wochen gebraucht, um das Messer nach Einbruch der Dunkelheit anzufertigen, aber es kostete sie nur Augenblicke, es zu benutzen. Der Mann starb sehr langsam und versuchte im Todeskampf, Anna zu erwürgen, doch sie rammte ihm wieder und wieder das Messer in den Leib, bis der Boden schlüpfrig von seinem Blut war.
Zehn Minuten später schloß sie mit dem Schlüssel des Mannes eine Seitentür auf und marschierte durch den Schnee und die eiskalte Nacht davon. Sie trug die blutverschmierte Uniform des Mannes, seinen Mantel und seine Pelzmütze, hatte seine Pistole dabei und schlug den Weg über die schmale, gewundene Straße durch den Birkenwald ein. Die Wache auf dem nächstgelegenen Turm machte sich nicht mal die Mühe, sie anzurufen.
Nach einigen Stunden hatte Anna Chorjowa, fast erfroren und am Rand der völligen Erschöpfung, endlich die Grenze zu Finnland erreicht.
Sie sprach fast eine Stunde mit Massey.
Er saß da, hörte ruhig zu und nickte verständnisvoll, wenn Anna stockte oder der Schmerz der Erinnerungen sie überwältigte, so daß sie nicht weiterreden konnte.
Ab und zu sah sie den Schock in seinem Gesicht, während sie ihm ihre Geschichte erzählte. Seine Haltung veränderte sich. Er war nicht mehr teilnahmslos, schien plötzlich die Tiefe ihres Schmerzes begriffen zu haben und auch den Grund, aus dem sie getötet hatte.
Als ihre Geschichte schließlich zu Ende war, lehnte Masseysich zurück und blickte sie mitfühlend an. Anna wußte, daß er ihr glaubte.
Er sagte, daß noch jemand mit ihr reden wollte. Man würde ihr andere Fragen stellen, und vielleicht müßte sie ihre Geschichte noch einmal erzählen. Aber jetzt sollte sie sich erst einmal ausruhen und versuchen, wieder zu Kräften zu kommen. Am nächsten Tag würde man sie in ein privates Krankenhaus in Helsinki verlegen. Er würde ihr helfen, so gut er
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