Operation Schneewolf - Meade, G: Operation Schneewolf - Snow Wolf
Militärgefängnis.
Zwei Jahre nach dem Krieg erlebte Anna Grenko das erste Mal so etwas wie persönliches Glück.
Es war die Zeit, als die Bürger von Moskau wieder etwas Geschmack am Leben fanden. Die Stadt erwachte wie auseinem langen Winterschlaf und sprühte vor Freude und Ausgelassenheit. Wohnblocks und Cafés, Tanzhallen und Bierlokale schossen in jeder Vorstadt wie Pilze aus dem Boden. Die Menschen trugen modische Kleidung und leuchtende Farben, und im Sommer tanzten sie auf den Hotelterrassen zur neuesten Musik.
Anna Grenko fand eine Stelle als Sekretärin in einer Moskauer Fabrik. Da sie genug Zeit hatte, ging sie auf eine Abendschule. Zwei Jahre später besuchte sie Abendvorlesungen am Moskauer Spracheninstitut. Obwohl sie oft von Männern eingeladen wurde, ging sie nur selten aus und akzeptierte nie eine Einladung nach Hause. Nur einmal machte Anna Grenko eine Ausnahme.
Einer der jungen Dozenten, die sie kennenlernte, war Iwan Chorjow.
Er war erst vierundzwanzig, ein schlanker, bleicher und sensibler junger Mann. Aber er war bereits ein bewunderter und beliebter Dichter. Seine Arbeiten wurden in verschiedenen angesehenen Literaturmagazinen veröffentlicht.
Eines Abends nach der Vorlesung hatte er Anna auf einen Drink eingeladen.
Sie gingen in ein kleines Gartencafé am Ufer der Moskwa. Sie aßen eine Kleinigkeit und tranken starken, georgischen Wein. Iwan Chorjow redete über Poesie. Als er für Anna ein Gedicht von Pasternak zitierte, hielt sie es für das Schönste, was sie je gehört hatte. Iwan war ein aufmerksamer Zuhörer, wenn Anna ihre Meinung äußerte und versuchte nicht, sie einfach nur abzutun. Er besaß die Fähigkeit, sich selbst auf den Arm zu nehmen, und maß seinem eigenen literarischen Ruf keine übermäßige Bedeutung zu. Und er lachte gern.
Auf der Terrasse spielte eine Band einen leisen, traurigen Walzer aus der Vorkriegszeit. Iwan forderte Anna zu einem Tanz auf und versuchte nicht, sie dabei unschicklich zu berühren oder zu küssen. Anschließend brachte er sie nach Hause, doch statt ihr einen Gutenachtkuß zu geben, schüttelte er ihr nur förmlich die Hand.
Eine Woche später lud er sie zum Abendessen in sein Elternhaus ein. Nach der Mahlzeit saßen sie alle bis in die frühen Morgenstunden zusammen. Als Anna über einen Witzlachte, den Iwans Vater gemacht hatte, lächelte Iwan Chorjow und sagte, daß er sie zum ersten Mal glücklich sähe.
Anschließend war sie ins Bett gegangen und hatte an ihn denken müssen. An seine ruhige Sicherheit und Freundlichkeit, an seinen Humor. Seine Fähigkeit, sich zu fast jedem Thema sinnvoll äußern zu können, seine wache Intelligenz und seine Sensibilität. Seine Bereitschaft, ihren Ansichten zuzuhören und sie ernst zu nehmen. Wie sie war auch Iwan ein Einzelgänger, aber einer von anderer Art. Seine Unabhängigkeit entsprang einer ruhigen Selbstsicherheit und dem Rückhalt einer liebenden Familie.
Sie verliebte sich in ihn und einen Monat, nachdem sie ihre Abschlußprüfung bestanden hatte, heirateten sie.
Ihre Flitterwochen verbrachten sie allein in einer großen Holzvilla am Strand in der Nähe von Odessa. Jeden Morgen gingen sie im warmen Schwarzen Meer schwimmen, liefen zurück in die Datscha und liebten sich.
Nachts las er ihr Gedichte vor, die er geschrieben hatte, und erzählte ihr immer wieder, daß er sie liebte, daß er sie vom ersten Tag an geliebt hatte, als er sie auf dem Campus gesehen hatte. Als er sah, wie ihr Tränen in die Augen traten, zog er sie in die Arme und hielt sie fest.
Als ein Jahr später ihr Kind geboren wurde, war für Anna das Leben vollkommen. Es war eine Tochter, und sie gaben ihr den Namen Sascha. Man teilte ihnen eine kleine Wohnung am Lenin-Prospekt zu, und sie und Iwan gingen mit ihrem Baby oft im nicht weit entfernten Gorki-Park spazieren.
Anna würde den ersten gemeinsamen Spaziergang als Familie niemals vergessen. Sie und Iwan und die kleine Sascha. Und der Vaterstolz auf Iwans Gesicht, als er seine kleine Tochter in den Armen hielt. Ein Mann mit einem Fotoapparat hatte für fünfzig Kopeken in einem Musikpavillon ein Foto von der Familie geschossen. Anna und Iwan lächelten, und Sascha war in eine wollene Mütze und eine weiße Decke eingewickelt. Ihr Gesicht war dick, rosa und gesund, und ihre kleinen Lippen gierten nach Milch. Anna hatte das Foto in einem silbernen Rahmen auf den Kaminsims gestellt. Sie betrachtete es jeden Tag, als müßte sie sich ständig daran erinnern, daß
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