Opernball
nun auch Du zu spinnen an?«
Wir gingen zu Hervé Leger. Herbert arbeitet in einer Werbeagentur. Er verdient gut. Aber es war das teuerste Kleid, das ich je gekauft habe. Apricotfarben, eng anliegend, aber bodenlang, mit Schlitzen bis zum Schritt und rund um die Taille, tief dekolletiert. Wenn ich das Kleid trug, war auf den ersten Blick der Unterschied zwischen Haut und Stoff nicht erkennbar.
»Das richtige Kleid für einen Barbesuch nach Mitternacht, aber nicht für den Opernball«, sagte ich.
»Auffällig und schamlos«, sagte Herbert, »so wollen wir mit Deinem Vater zum Opernball gehen.«
»Werden die mich überhaupt reinlassen?«
»Dann werde ich sagen, ich bin Prinz von Hohenlohe, und das ist die Gräfin Tutu.«
Am Anfang des Jahres sah es plötzlich so aus, als ob wir doch nicht zum Opernball gehen würden. Mein Vater hatte wieder einmal angerufen. Im Frankfurter Schauspielhaus wurde Thomas Bernhards Heldenplatz in einer Gastvorstellung des Wiener Burgtheaters aufgeführt. Er wollte das Stück unbedingt sehen. Er war ein begeisterter Theaterbesucher. Für zeitgenössische Stücke konnte er sich allerdings nur selten erwärmen. Thomas Bernhard interessierte ihn erst seit dem Stück Heldenplatz, das er jedoch in Berlin versäumt hatte. Er kaufte sich, durch Zeitungsberichte neugierig gemacht, die Textausgabe und verwickelte Sigrid immer wieder in Gespräche über dieses Stück. Sigrid war von der Wiener Inszenierung enttäuscht gewesen. Mein Vater meinte, Bernhard beschreibe genau jenes Land, das er kenne.
Ich wollte ihn mit dem Auto vom Bahnhof abholen. Herbert fuhr deshalb mit der S-Bahn zur Arbeit. Wir wohnen in Eschborn, außerhalb von Frankfurt. Ich wollte meinem Vater nicht die hohe Stiege beim S-Bahnhof zumuten. Leider war an diesem Tag ein Unfall auf der Autobahn. Ich steckte im Stau. Auf die Minute genau kam ich zum Bahnhof, aber ich fand keinen Parkplatz. An keinem Bahnhof der Welt ist es schwerer, einen Parkplatz zu finden. Ich stellte mich dann einfach vor den Südausgang und riskierte, daß mein Auto abgeschleppt sein würde, wenn ich zurückkäme. Der Bahnsteig leerte sich langsam, mein Vater war nirgendwo zu sehen. Ich ging die Waggons entlang. Da ich meinen Vater nicht fand, lief ich zurück Richtung Kassenhalle. Es ist auch kein Bahnhof so unübersichtlich wie der in Frankfurt. Hatte ich meinen Vater versäumt? Und wenn, wohin war er gegangen? Zum Nordausgang, zum Südausgang, oder durch die Kassenhalle? Vor der Bahnhofspizzeria, am Ende des Bahnsteigs, stand ein Rettungswagen, daneben ein paar Menschen. Sie schauten zu zwei Lokomotiven, die auf nebeneinanderliegenden Gleisenden standen. Dazwischen stieg ein Arzt auf die Plattform herauf, ihm folgten zwei Sanitäter mit einer Tragbahre. Darauf lag mein Vater.
Er war auf der falschen Seite ausgestiegen. Die Tür hätte geschlossen sein müssen, aber sie war offen. Mein Vater fiel auf den Schotter und brach sich den rechten Oberschenkel. Er wurde in die Universitätsklinik gebracht. Ich war jeden Tag bei ihm. Am Anfang freute er sich darüber, aber bald wurde ich ihm lästig. Er schämte sich für das Mißgeschick.
»Man muß die Bahn verklagen«, sagte er, »weil die falsche Tür offen war.«
»Herbert wird sich darum kümmern«, antwortete ich. Er tat es wirklich. Aber bald wollte uns der Sinn einer solchen Klage nicht mehr einleuchten. »Wir leben nicht in Amerika«, sagte Herbert. »Wenn wir klagen, wird vielleicht ein Bahnbediensteter entlassen, aber reich wird Dein Vater nicht dabei.«
Allerdings war der Fall vom Krankenhaus schon der Polizei gemeldet worden. Es gab eine Untersuchung. Wie sie ausging, haben wir nicht erfahren, weil mein Vater auf Genugtuung verzichtete. Ich glaube, er fürchtete, vor Gericht als tolpatschiger, alter Mann dazustehen.
Er wollte aus dem Krankenhaus entlassen werden, aber sie ließen ihn nicht gehen. Seine Blutwerte seien schlecht, war die Begründung. Bei einer Visite sagte der Oberarzt, ich solle ihn wegen der Entlassungsformalitäten in einer Stunde aufsuchen. In zwei Tagen könne ich den Herrn Professor zu mir nach Hause nehmen.
»Wozu gibt es eine Entlassungsabteilung?« fragte mich danach mein Vater.
»Du bist eben ein besonderer Patient«, antwortete ich.
Der Oberarzt teilte mir mit, daß mein Vater Krebs habe. Sein Körper sei voller Metastasen. Angesichts seines hohen Alters und da er zur Zeit nicht sonderlich darunter leide, halte er eine Behandlung noch nicht für zweckmäßig.
»Es
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