Opernball
Seine Erinnerungen wurden zusehends freundlicher. Früher hatte er eine ausgesprochen harte Meinung von seinen Lehrern gehabt. Einer Schar schwerer Neurotiker sei er ausgeliefert gewesen. Er könne von sich nicht behaupten, daß er dort irgend etwas Wertvolles gelernt habe. Das Gymnasium Stubenbastei hatte er eine Verdummungsanstalt genannt, die Schüler mit den besten Anlagen systematisch zerstört habe. Vor allem Qualen waren es gewesen, von denen er erzählt hatte. Aber das änderte sich in letzter Zeit. Immer mehr meinte er seinen Lehrern zu verdanken.
Es kam vor, daß wir fünf Minuten auf der Straße standen, er hielt meinen Arm und redete. Früher, als er noch an der Technischen Universität Mathematik lehrte, habe ich ihn manchmal vom Einstein zur Vorlesung begleitet. Das war ein langer Weg. In der Stadt ging er fast immer zu Fuß. U-Bahnen und Autobusse mied er. Wenn der Weg zu weit war, nahm er ein Taxi. Er war früher sehr schnell unterwegs. Ich hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Um so auffälliger war es, wenn er plötzlich stehenblieb, um mir etwas zu sagen oder mir eine Frage zu stellen. Mehrere Jahre lang kam eine Frage immer wieder: »Was ist, wenn Tito stirbt?«
Ich habe versucht, ihn zu beruhigen. »Gar nichts wird passieren. Die werden sich auf ein anderes Staatsoberhaupt einigen, und alles wird weitergehen.«
Das schien ihn nicht zu überzeugen. Er brummte nur. Wenn ich das nächste Mal mit ihm unterwegs war, ergriff er wieder meinen Unterarm und fragte: »Was ist, wenn Tito stirbt?«
Er fürchtete schon damals, in den siebziger Jahren, daß nach Titos Tod die jugoslawischen Völker auseinanderfallen würden. Und dann, so war er überzeugt, würden die Russen einmarschieren. Es war ihm nicht auszureden, jedenfalls war ich dazu nicht in der Lage.
An manchen Tagen, wenn seine Vorlesungen schon um neun Uhr vormittags begannen, hatte er keine Zeit, ins Einstein zu gehen. Dann kaufte er die Zeitungen. Den ganzen Tag über fand er keine freie Minute, sie zu lesen. Sie stapelten sich neben seinem Schreibtisch. Meine Mutter durfte sie nicht wegwerfen, weil er meinte, er würde noch dazu kommen, sie durchzusehen. Meine Mutter versuchte den Stapel in Maßen zu halten, indem sie hin und wieder von unten einen Packen herauszog und zur Mülltonne hinabtrug.
Als wir am zweiten Weihnachtsfeiertag nach Frankfurt am Main zurückfuhren, unterhielten wir uns über den merkwürdigen Wunsch meines Vaters.
»Vielleicht hofft er«, sagte Herbert, »daß auch die emeritierte Professorin der Theaterwissenschaft kommen wird. Oder vielleicht hat er sich sogar heimlich mit ihr verabredet. Wer weiß, vielleicht hat er sich all die Jahre mit ihr getroffen, wenn er auf Kongressen in Wien war.«
Ich dachte darüber nach, ob er die Kongresse in Wien gegenüber anderen bevorzugt hatte. Mit einem Mal schien es mir so. Aber das könnte auch wegen meiner Schwester gewesen sein. Mein Vater hat immer Heimlichkeiten gehabt. Hin und wieder habe ich ihn auf der Straße mit einer Frau gesehen. Wenn man nicht direkt auf ihn zuging, nahm er einen nicht wahr. Er war immer so mit seiner eigenen Welt beschäftigt, daß er die auffälligsten Dinge nicht sah. Das las er dann in den Zeitungen nach. Als Anfang der achtziger Jahre die Grundkreditbank gebaut wurde, gab es eine Auseinandersetzung um die Architektur. Ein Kritiker hatte von einem faschistoiden Bunker gesprochen. Mein Vater wollte sich den Bau ansehen. Ich sagte: »Aber Du gehst doch jeden Tag daran vorbei!«
Einmal, als ich meinen Vater mit einer Frau sah, folgte ich ihnen. Er blieb mit ihr genauso auf dem Gehsteig stehen, wie er es mit mir tat. Während er redete, hielt er auch sie am Unterarm. Ich ließ sie nicht aus den Augen, bis sie in einem Restaurant verschwanden. Mein Vater hatte zwei Freundeskreise, einen, in dem auch meine Mutter verkehrte, und einen, den sie nicht kannte, von dem er auch nie erzählte.
Bald nach Weihnachten war wieder Fünfuhrläuten. Mein Vater sagte, er habe zwei Zimmer im Hotel Imperial reserviert.
»Warum wohnen wir diesmal nicht bei Sigrid«, fragte ich. »Die hat doch genug Platz für uns alle.«
»In meinem Alter«, antwortete er, »kann ich nicht ausschließen, daß es mein letzter Opernball ist. Und da will ich im Imperial wohnen. Aber es ist mir lieber, wenn ich weiß, daß Ihr im Nebenzimmer seid.«
»Langsam wird das richtig spannend«, sagte Herbert. »Wir müssen zu Hervé Leger gehen, Du brauchst ein Kleid.«
»Fängst
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