Opernball
weiß jetzt, daß ich mein Buch noch zu Ende bringen werde.«
Er hatte bald nach seiner Pensionierung ein Buch veröffentlicht, das offenbar in Fachkreisen nicht gut angekommen war. Ich merkte es an seinem ganzen Verhalten. Er wollte darüber nicht reden. Über Niederlagen sprach mein Vater nie. Er hatte nur noch ein großes Ziel, sein Versagen wettzumachen. Jeden Tag um fünf Uhr morgens ging er an seinen Schreibtisch. Sein Arbeitszimmer war vollgestopft mit Büchern. Das war schon immer so. Alle Wände, bis zum Plafond hinauf, voller Bücher. Später füllte sich langsam auch das Schlafzimmer mit Büchern. Ich erinnere mich, wie er das erste Regal ins Schlafzimmer stellen wollte. Mutter war dagegen. Eine Zeitlang konnte sie es verhindern, bis die Bücher auch im Vorzimmer keinen Platz mehr fanden. Jedes Jahr wurde der Tischler gerufen, um das Regal weiterzubauen. Mein Vater wollte, daß er es rot anstreicht. Die unterschiedlichen Rottönungen des Schlafzimmerregals waren wie Jahresringe. Vor fünf Jahren, nach dem Tod meiner Mutter, änderte sich das Aussehen seines Arbeitszimmers. Früher war es immer ordentlich aufgeräumt gewesen. Alle Gäste wurden zuerst auf einen Aperitif dorthin geführt. Mein Vater wußte immer schon Eindruck zu machen. Aber nach dem Tod meiner Mutter wuchs das Arbeitszimmer zu. Kein Gast hätte dort noch irgendein Plätzchen gefunden. Der Tisch, die Sessel, die Ablagen, die Couch, der Ölofen, alles war bedeckt mit Büchern und Manuskripten, die sich bald auch auf dem Fußboden stapelten. Vom Schreibtisch zur Tür hatte er einen schmalen Korridor freigehalten. Vielleicht ging er dort immer noch auf und ab. Langsamer wahrscheinlich, und vielleicht auf der Suche nach einem Gedanken, den er gerade noch gehabt hatte.
Wollte man ihn vormittags telefonisch erreichen, mußte man um Punkt neun Uhr anrufen. Vorher kam er nicht ans Telefon. Und danach ging er ins Café Einstein frühstücken. Früher hatte er daheim gefrühstückt. Dennoch war er danach ins Café Einstein gegangen, wo er noch eine weitere Tasse Kaffee trank. Er sagte, diese Angewohnheit habe er aus seinen Wiener Jahren beibehalten. Meine Mutter behauptete aber, in Wien sei er selten ins Kaffeehaus gegangen. Zur regelmäßigen Gewohnheit sei das erst in Berlin geworden. Das Café Einstein hatte er nicht ausgewählt, weil es den Namen seines berühmten Fachkollegen trug, sondern weil es in der Nähe unserer Wohnung lag und weil es, wie er öfter betonte, dort eine österreichische Wochenzeitschrift gab. Meine Mutter erinnerte ihn daran, daß er schon viel länger ins Einstein gehe, als es die Zeitschrift Profil überhaupt gebe, und daß er es gewesen sei, der gedrängt habe, das Zeitschriftenangebot um ein österreichisches Magazin zu erweitern. Wenn ich in Berlin war, verabredeten wir uns im Einstein. Ich mußte später kommen, nicht schon um neun. Er wollte etwa eine Stunde mit seinen Zeitungen allein sein.
Einmal kam ich zu früh. Ich habe genau gesehen, daß er mich bemerkt hat. Aber er beachtete mich nicht. Ich setzte mich an einen anderen Tisch und schaute ihm beim Zeitunglesen zu. Es waren immer dieselben drei Zeitungen: die Süddeutsche, die Neue Zürcher und die Herald Tribune. Sein Englisch war nicht gut, es war mehr ein Fachenglisch, das Englisch von Mathematikkongressen. In der Herald Tribune las er kaum mehr als die Überschriften. Selten, daß er vor einer Seite länger verweilte. Am ausführlichsten befaßte er sich mit der Süddeutschen und einmal in der Woche mit dem Profil. Bis zuletzt interessierte ihn die österreichische Politik mehr als die deutsche, obwohl er fünfunddreißig Jahre in Berlin lebte. Sigrid, meine Schwester, die nach Wien zurückgegangen ist, mußte ihm stundenlang von Österreich erzählen. Zum Lesen trug er eine große Hornbrille. Als er sie neben die Kaffeetasse legte, war das für mich das Zeichen, daß ich zu ihm hinüberkommen könne. Er tat so, als würde er mich erst jetzt bemerken, nahm mich an beiden Händen und ließ sich die Wangen küssen. Er war ungemein großzügig. Jedes Treffen mit meinem Vater war eine kleine Feier. Immer wollte er, daß ich möglichst viel bestelle.
Wenn wir vom Café Einstein in die große Wohnung heimgingen, in der er die letzten fünf Jahre allein wohnte, blieb er auf der Straße oft stehen und ergriff meinen Arm. Er konnte nicht gleichzeitig reden und gehen. In letzter Zeit sprach er viel von seiner Schulzeit, von den Lehrern im Gymnasium Stubenbastei.
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