Opernball
gibt alte Menschen«, sagte er, »die leben ewig mit ihrem Krebs und sterben oft nicht einmal daran.«
Ich mußte mich setzen. Er setzte sich neben mich und las mir einen langen Brief an die Universitätsklinik in Berlin vor. Bei einigen Fachausdrücken fügte er mündliche Erklärungen hinzu. Am Schluß fragte er mich, ob er mir den Brief geben oder ob er ihn schicken solle. Ich nahm ihn an mich. Der Oberarzt legte mir eine Hand auf den Rücken.
»Das kann lange dauern«, sagte er.
Mit einem Krankentransport wurde mein Vater zwei Tage später nach Eschborn gebracht. Wir quartierten ihn im Gästezimmer ein. Er hatte einen Liegegips. Zur Toilette mußten wir ihn tragen. Er verweigerte die Bettpfanne. Ich mietete einen Rollstuhl, aber der erwies sich als unbrauchbar. Meine Schwester bot sich an, nach Frankfurt zu kommen. Mein Vater war dagegen. Er wollte nicht zum Pflegefall für die ganze Familie werden. Tim, mein ältester Sohn, er studiert Betriebswirtschaft, konnte es sich so einteilen, daß er mir behilflich war. Er trug seinen Großvater und ich das Gipsbein.
Obwohl wir uns alle Mühe gaben, ihn gut zu betreuen, wurde mein Vater immer unzufriedener. Er wollte nach Berlin zurück.
»Das ist unmöglich«, sagte ich. »Du kannst Dir allein nicht helfen.«
Dem konnte er schwer widersprechen. Ich merkte, daß es die Arbeit war, die ihm fehlte, und bot ihm daher an, die wichtigsten Unterlagen aus Berlin zu holen.
»Ich brauche alles«, sagte er, »alles, was in meinem Arbeitszimmer offen herumliegt. Aber das gäbe ein so hoffnungsloses Durcheinander, daß ich es nie wieder richtig auseinandersortieren könnte.«
In aller Früh, noch vor der Morgentoilette meines Vaters, fuhr ich nach Berlin. Tim blieb daheim. Ich kaufte mir einen Packen rotes Kopierpapier. Als ich die Wohnung aufsperrte, war da dieser Geruch meiner Kindheit. Ein Geruch, den es nirgendwo sonst gab, nur in unserer Wohnung. Ich ging von Zimmer zu Zimmer. Auf einmal mußte ich weinen. Ich kroch unter das Klavier und heulte. Wenn ich als Kind eine Geburtstagsparty hatte, kaufte mein Vater immer viele Bonbons. Er verstreute sie am Boden. Dann mußte ich hinausgehen. Er einigte sich mit den anderen Kindern auf ein bestimmtes Bonbon. Ich wurde hereingeholt und begann Stück für Stück die Bonbons einzusammeln. Bis ich das in die Hand nahm, auf das sie sich geeinigt hatten. Da schrien alle gemeinsam: »Maus!« Dann kam das nächste Kind dran. Einmal schrien sie schon beim zweiten Bonbon. Ich kroch unter das Klavier und weinte. Obwohl ich genau wußte, mein Vater würde mir am nächsten Tag die übriggebliebenen Bonbons geben. Ich habe damals so viel geheult, daß die Kinderparty abgebrochen werden mußte. Als ich mich daran erinnerte, weinte ich mit dem Kind noch eine Zeit mit, dann mußte ich plötzlich lachen. Ich trocknete im Bad mit einem Papiertaschentuch meines Vaters die Tränen, tuschte die Wimpern neu und zog die Lippen nach.
Im Arbeitszimmer zeichnete ich zuerst einen genauen Plan, an welchen Stellen Bücher und Manuskripte lagen. Ich numerierte die Stellen von 1 bis 56. Dann sammelte ich, mit Platz eins beginnend, die Manuskripte ein. Stapel ließ ich in der vorgefundenen Reihenfolge. In aufgeschlagene Bücher legte ich Lesezeichen. Auf jeden Stapel legte ich ein rotes Blatt mit der entsprechenden Platznummer. In mehreren Stunden füllte ich auf diese Weise fünf Koffer. Manchmal hatte mein Vater englischsprachige Artikel geschrieben, die übersät waren mit Formeln. Er machte unendlich viele Kopien davon, die er in alle Welt verschickte. Die Kopierapparate konnten damals noch nicht sortieren. Wenn mein Vater die Kopien ordnete, legte er sie im Arbeitszimmer nebeneinander auf den Boden. Dann sammelte er sie ein und versah jedes Manuskript mit einer persönlichen Widmung, bevor er sie ins Kuvert steckte. Als ich einmal zu Sigrid nach Wien fuhr, gab er mir einen Artikel für einen Kollegen mit, den ich persönlich übergeben sollte. Er hatte in großer Schrift mit dem Füllhalter daraufgeschrieben: ›Für meinen lieben Freund und geschätzten Kollegen Hofmann-Ostenhof als bescheidenes Zeichen der Erinnerung an gemeinsame Tage.‹
Seine Widmungen waren immer überschwenglich. Auch wenn er sich in ein Gästebuch eintrug. Immer tat er es in großer Schrift und mit ausladenden Worten.
Die Koffer wollte ich nicht aufstellen, damit die Manuskripte nicht durcheinanderrutschten. Ich gab dem Hausmeister zwanzig Mark. Er half mir, die Koffer zum
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