Opernball
später, am ersten Weihnachtsfeiertag brachten wir ihm die Geschenke nach Berlin. Seit er allein war, habe ich ihm mehrmals vorgeschlagen, den Heiligen Abend bei uns zu verbringen. Das wollte er nicht. Ich dachte zuerst, es liege an Herbert, aber er wollte auch nicht zu Sigrid, meiner Schwester, nach Wien fahren.
Unsere beiden Söhne kamen erstmals nicht mit. Sie fuhren mit Freunden in unser Haus an den Attersee. Wir brachten sie gegen Mittag zum Hauptbahnhof, dann fuhren wir nach Berlin. Mein Vater hatte damit gerechnet, daß die Kinder mitkommen würden. In Sigrids Zimmer hatte er ihnen zwei große Pakete auf die Betten gelegt. Er war enttäuscht. Früher hatte er sich nie sonderlich um sie gekümmert, er hatte sie meiner Mutter überlassen. Nach ihrem Tod begann er, sich für seine Enkel zu interessieren. Er verwickelte sie in lange Gespräche. Danach gab er mir Ratschläge.
Mein Vater ließ sich nicht abhalten, im Restaurant anzurufen, um einen kleineren Tisch zu bestellen. Da saß er uns dann gegenüber mit seinen schneeweißen Haaren, hielt sich mit beiden Händen am Tisch fest und redete.
Es war immer dasselbe. Am Anfang wollte er uns zuhören. Er wollte Neuigkeiten aus unserem Leben erfahren, und er wollte wissen, wie es mit unserer Beziehung stehe. Er fragte das unverblümt. Am Schluß redete nur noch er. Er konnte, besonders, wenn er getrunken hatte, unglaublich lange reden. Dazwischen gab es Momente, in denen er offenbar befürchtete, langweilig zu werden. Er griff über den Tisch nach unseren Händen. Dabei sagte er: »Sokrates hat angeblich auf die Frage, ob man heiraten solle oder nicht, geantwortet: ›Was von beiden du auch tust, du wirst es bereuen.‹«
»Hast Du nicht früher gesagt, das stamme von Kierkegaard?« fragte ich.
»Der hat es übernommen, aber ursprünglich wird der Satz Sokrates zugeschrieben.«
Mein Vater hat diesen Satz hundertmal zitiert, sogar in seiner Tischrede bei unserer Hochzeit. Dabei hat er immer Kierkegaard als Quelle genannt. Wahrscheinlich hat ihn irgend jemand auf den Irrtum aufmerksam gemacht.
Und dann kam er plötzlich wieder auf den Opernball zu sprechen. Er erzählte, daß 1939, als er ein junger Dozent in Wien war, der Opernball zufällig an seinem Geburtstag stattgefunden habe, am 21. Februar. Er war damals in eine Assistentin der Theaterwissenschaft verliebt und lud sie zum Opernball ein.
»Die Leute«, sagte er, »trugen zwar ihre Hakenkreuze zur Schau, auch hat es ein paar Reden von Obernazis gegeben, dennoch ist es eine herrliche Ballnacht geworden. Deine Mutter wird mir verzeihen, wenn ich sage, es war die schönste Ballnacht, der schönste Geburtstag meines Lebens.«
Er muß das Mädchen wie eine Göttin verehrt haben, denn er schwärmte in einer Weise von ihr, als wäre meine Mutter, mit der er ein halbes Jahrhundert verheiratet war, nur eine Verlegenheitslösung gewesen. Woran die Beziehung zur Assistentin zerbrochen ist, war aus ihm, trotz mehrmaligen Nachfragens, nicht herauszubringen. Sie wurde in Wien Professorin und ist längst emeritiert. Das war alles, was wir erfuhren.
»Der diesjährige Opernball«, sagte mein Vater, »findet zufällig wieder an meinem Geburtstag statt.«
Herbert berührte mich mit seinem Fuß und nickte leicht vor sich hin.
»Einverstanden, Vater, aber ich fürchte, Du wirst furchtbar enttäuscht sein ohne Deine Assistentin.«
»Die habe ich doch im Kopf«, sagte er. Wieder griff er nach unseren Händen und bedankte sich. Das sei sein schönstes Geburtstagsgeschenk.
»Wißt Ihr, ich bin so alt, daß es nicht mehr viele Wünsche gibt, die Ihr mir erfüllen könnt.«
Unsere Zusage machte ihn fröhlich. Immer wieder bestellte er neue Getränke. Danach ging er mit uns noch in eine Hotelbar. Nie in den letzten Jahren habe ich ihn so voller Lebenskraft erlebt. Er bestellte Cognac und Wasser. Schnaps vertrug er nur noch, wenn er viel Wasser nachtrank. Eine rot livrierte Band spielte schummrige Tanzmusik. Weil kein anderer Platz mehr frei war, setzte sich ein Mann zu uns an den Tisch. Mein Vater verwickelte ihn sofort in ein Gespräch. Es war ein Matrose aus der ehemaligen DDR, der jetzt für eine Versicherung als Kundenwerber arbeitete und dabei gut verdiente. Offenbar gab es zur Zeit ein großes Bedürfnis nach Sicherheit. Aber er redete vor allem von der See und erzählte von den rauhen Umgangsformen und der eisernen Disziplin, die auf dem Schiff herrschten. Ganz unvermittelt unterbrach ihn mein Vater und sagte: »Ich
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