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Opernball

Opernball

Titel: Opernball Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Haslinger
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Stelle zeigen. Zufällig hatte ich während der Patrouille hingeschaut. Ich war mit meinem einführenden Kollegen unterwegs. Wir hatten dieselben Arbeitszeiten. Wenn man neu ist bei der Polizei, wird man jemandem zugeteilt, der sich schon auskennt. Mein einführender Kollege hat mich immer sehr in Schutz genommen. Ein feiner Mensch. Jetzt sind wir getrennt. Jetzt ist ja alles anders.
    »Du, da liegt ein Finger«, habe ich gesagt. Mein Kollege war noch weiter hinten. Er wollte es nicht glauben. Als er näher kam, sah er es auch. Ich dachte zuerst an einen Scherzartikel. Mein Kollege stupste mit der Fußspitze daran herum, dann beugte er sich hinab. Es war ein Finger. Ich hatte zufällig ein frisches Taschentuch einstecken. Darauf legt meine Frau großen Wert. Jeden Tag fragt sie mich: »Hast Du ein frisches Sacktuch einstecken?«
    Mein Kollege wickelte den Finger ein. Im Kommissariat legten wir den Fund ins Eisfach des Kühlschranks. Wegen eines Fingers kann man ja nicht gleich den Notarzt verständigen. Was sollte der damit machen, wenn sonst nichts da ist? Wir schrieben ein Protokoll und wurden uns nicht einig, ob es ein kleiner Finger der rechten oder der linken Hand war. Immer wieder holten wir das mit einem Gummiring zugeschnürte Taschentuch aus dem Eisschrank, öffneten es und schauten uns den Finger an. Freigelegter Knochen, heraushängende Sehne, ein blutverkrusteter oder verdreckter Hautlappen. Die beiden vorderen Glieder waren wächsern, fast weiß. Der Nagel wies Längsrillen auf und war kurz gestutzt. Er wirkte durchsichtig. Ein kleiner Finger eines Erwachsenen, war die allgemeine Meinung. Der Postenkommandant sah das anders. Er meinte, es sei der Zeigefinger eines Kindes. Niemand nahm ihm das ab. Aber er wußte immer alles besser. Wenn sich schließlich herausstellte, daß er unrecht hatte, redete er nicht mehr davon. Aber wehe, er war im Recht. Dann sprach er tagelang von nichts anderem. So war er.
    Der Amtsarzt telefonierte in den Spitälern herum, aber niemandem fehlte ein Finger. Brauchen konnten wir ihn nicht, also machten wir davon einen Abdruck und übergaben ihn der Gerichtsmedizin. »Riß- und Schnittflächen«, sagte die. Das hatten wir auch gesehen. Es war der Finger eines Jugendlichen, der kleine Finger der rechten Hand. Im gerichtsmedizinischen Gutachten stand auch, der Finger enthalte auf der Seite der Rißwunde Spuren einer Tätowierung. Das half uns nicht weiter. Tätowiert ist jeder zweite Jugendliche.
    Von abgetrennten Fingern lassen sich schöne Abdrücke machen. Weil kein Körper die Kippbewegung bremst. Es wurde ein tadelloser Abdruck. Die Kriminaltechnik hat daraus eine detailgenaue Nachbildung der Fingerspitze hergestellt. Wenn wir Jugendliche trafen, der erste Blick fiel immer auf ihre Finger. Uns interessierte, was vorgefallen war. Ging es um Drogen? Oder Hehlerei? Warum blieb der Finger liegen? Es gab keine Anzeige und keinen Notruf.
    Die Kollegen von der Alarmabteilung wußten mehr, aber sie sagten es nicht. Ließen uns einfach weitersuchen. Der Abdruck war nicht registriert. Eine Sehne hing heraus. Unser Doktor meinte – unser Doktor ist der Amtsarzt, der Medizinalrat Blechner. Wir sagen unser Doktor, weil er uns immer hilft, wenn wir etwas brauchen. Ein sehr kooperativer Mensch, spielt Tarock, eigentlich schon ein Freund, kann man sagen. Beim Tarock haben wir mit ihm darüber gesprochen, als wir den Originalfinger noch im Eisfach hatten. Das war nur eine kleine Runde, die selten zustande kam, die meisten zogen es vor zu schnapsen, bauernschnapsen, talonschnapsen, stockschnapsen. Früher hat es auch Preferencer gegeben, aber die waren längst in Pension. Heute gibt es auch keine Tarockierer mehr. Beim Tarock trank der Doktor meistens ein Achterl mit uns und wurde gesprächig. Er meinte: »Wenn ihr mich fragt, der Finger ist mit einem stumpfen Messer abgeschnitten worden. Unfall war das keiner.«
    Er nahm den Finger aus dem Eisfach, wickelte ihn aus und hielt ihn uns mit der Zuckerzange vors Gesicht. Hautlappen und Muskelfasern waren an einigen Stellen ausgefranst, an anderen aber geschnitten. Das herausragende Sehnenstück enthielt mehrere Schnittkerben. Das Ende war deutlich sichtbar durchtrennt worden. Das war doch ein wichtiger Hinweis. Der Fall bedurfte also weiterer Beobachtung. Ein Messer, ein ausgerissener Finger und keine Anzeige.
    Deshalb war es schon aus dienstlichen Gründen hin und wieder geboten, den Tatort aufzusuchen. Besser gesagt: den Fundort. Der Fall wurde

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