Opernball
wegdrängen lassen. Auch als der Fingerakt geschlossen wurde und ich offiziell nicht mehr daran arbeitete, beschäftigte mich der Fall noch. Worauf ich achten sollte, war mir selbst nicht so klar, auf Auffälligkeiten, zum Beispiel auf Menschen, denen ein kleiner Finger fehlte. Zugegeben, die sah ich nicht so häufig, eigentlich nie, aber es lohnte immer, im Museumseck nachzuschauen, weil es in diesem Teil der Passage keine Überwachungskamera gab. Lichtscheues Gesindel treibt sich doch gerade in solchen überwachungsfreien Zonen herum. Es gab übrigens nach der Fingergeschichte, die mir wegen besonderer Aufmerksamkeit während der Patrouille eine Belobigung einbrachte, eine Anfrage von der Abteilung für Verkehrsüberwachung. Die wollten dort nachträglich eine Kamera installieren.
»Um Gottes willen«, haben meine Kollegen aufgeschrien. »Dann verschwindet uns das ganze Gesindel, und wir müssen wieder die Parks durchkämmen.«
Sie haben es bleibenlassen. Die Verkehrsüberwachung ist sehr kooperativ geworden, seit unser früherer Personalvertreter dort arbeitet. Mit seinem Nachfolger ist nicht viel anzufangen. Er wurde Personalvertreter und gleich darauf stellvertretender Postenkommandant. Die einzigen Interessen, die er von da an vertrat, waren seine eigenen. Nach der Katastrophe wurde er selbst Chef. Er hat erreicht, was er wollte. Der vorige Personalvertreter hingegen, der dann in die Verkehrsüberwachung wechselte, war ein Kämpfer. Sein Karrieresprung begann mit einer Eingabe.
»Aufzeichnungen von Amtshandlungen durch Überwachungskameras dürfen nicht gegen die Kollegen verwendet werden.« Genauso hat er es schwarz auf weiß verlangt. Damit brachte er die Oberen in große Verlegenheit. Es war ja schon soweit, daß solche Bänder im Fernsehen gezeigt wurden. Man hat gar nicht mehr gewußt, wie man sich bei einer Amtshandlung verhalten soll. Es waren einem buchstäblich die Hände gebunden. Irgendeiner hat sich immer gefunden, spätestens bei Gericht, der eine Drohung oder unnötige Mißhandlung gesehen haben will. Die Initiative dieses Personalvertreters ging den Oberen zu weit. Der Inspektor sagte: »Das können wir nicht machen. Wenn die Presse davon Wind kriegt, dann heißt es gleich: Polizeistaat.«
Der alte Sicherheitsdirektor war für einen Kompromiß: »Wir können das Beweismittel einschränken auf schwere Anschuldigungen, aber ganz abschaffen, da macht die Richterschaft nicht mit.«
Der Personalvertreter erzählte uns das alles brühwarm nach den Sitzungen. Er blieb hart. Personalvertreter beim Bund, das hat Gewicht. Der Antrag wurde von einer Ausschußsitzung zur anderen verschleppt. Gut ein Jahr hat sich das hingezogen. Schließlich ist dem alten Sicherheitsdirektor doch noch eine Lösung eingefallen. Der Personalvertreter avancierte zum Archivleiter der Verkehrsüberwachung. Jetzt ist es so: Wenn das Gericht nicht binnen einer Woche einen Antrag stellt, werden Magnetbänder mit, sagen wir, etwas forscheren Amtshandlungen überspielt. Da kein Gericht bei uns innerhalb einer Woche tätig wird, gibt es keine Bänder mehr. Und alle sind zufrieden.
Wir waren immer für solche friedlichen Lösungen. Wie oft haben wir den Giftlern gesagt: »Bringt euch daheim um, aber nicht am Karlsplatz! Wir sind schließlich eine zivilisierte Stadt. Aus aller Welt kommen Menschen zu uns, wollen ein wenig Kultur genießen, zum Heurigen gehen, und stolpern an jeder Ecke über einen Suchtgiftdeliktler. Da können sie gleich nach Harlem fahren.«
Die haben das nicht hören wollen. Diese Aufsässigkeit. »Wir schicken euch heim«, haben wir gesagt, »da, steckt euer Heroin wieder ein und geht heim, unter einer Bedingung, daß ihr nie wieder hier auftaucht.«
Meinen Sie, es hätte etwas genützt? Am nächsten Tag waren sie wieder da. Das war unsere Hauptbeobachtung: Seit einigen Jahren war ein Teil dieser Delinquenten an friedlichen Lösungen nicht mehr interessiert. Eine gesunde Watschen hat nichts mehr genützt, zureden auch nicht. Es wurde von Monat zu Monat ärger. Wir haben uns, wenn wir beim Wein zusammensaßen, oft gefragt, woher das kommt. Warum fordern die uns so heraus? Was wollen die?
An diesem Opernballtag waren wir vom Museumseck Richtung Hauptpassage weitergegangen, da stießen wir auf die erste dieser Gestalten. Es gibt dort Stufen und daneben eine schiefe Ebene. Hätten sie nur die Stufen gemacht, würde jeder fragen, welcher Volltrottel von einem Architekten mitten in die Passage einen
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