Opernball
Trauermonat ausgerufen worden. Danach sollten, ohne Wahlkampf, Neuwahlen abgehalten werden.
Am Abend nach Freds Ermordung zeigte ETV die Bilder der eigenen Toten. Fred war darunter. Ich war so übermüdet, daß ich nur noch vor mich hin starrte und vom Gedanken besessen war, das alles sei ein Traum. Später schaltete ich den Fernseher aus, trank und heulte in eine endlose Leere hinein. Irgendwann läutete das Telefon. Ich ging nicht ran. Durch den Lautsprecher des Anrufbeantworters hörte ich die Stimme meines Vaters: »Kurt, wir sind trostlos. Sag uns, was wir für Dich tun können. Sollen wir nach Wien kommen? Blanka meint, wir sollten morgen zu Dir fliegen. Sag uns, was Dir lieber ist.«
Ich rief nicht zurück. Ich hätte nicht gewußt, was ich sagen soll. Später schlief ich im Wohnzimmer auf der Couch ein. Den nächsten Tag verbrachte ich im ausgestorbenen Bürohaus. In der Chefetage tagte ein Krisenstab. Man kondolierte mir und hatte Verständnis dafür, daß ich nicht an der Sitzung teilnahm. Die vier Kamerateams, die überlebt hatten, waren im Dauereinsatz. Die Gänge blieben leer. Früher wurden sie von jenen zynischen Bemerkungen beherrscht, wie man sie in allen großen Redaktionen hört. Aber diejenigen, die dafür gut waren, saßen im Krisenstab, oder sie lebten nicht mehr. Die Sekretärinnen warteten einsam in ihren Büros, meist mit verheulten Gesichtern. »Herr Fraser, es tut mir so leid.« Die Türen ließen sie offen, als wollten sie den Rest von Leben einfangen, der diesem Haus noch geblieben war. Manche liefen heraus und begannen mir irgendwelche Geschichten von Fred zu erzählen. Ich konnte es nicht hören.
Michel Reboisson rief an. Er wollte mich unbedingt persönlich sprechen. Er fand erstaunlich viele Worte, um sein Beileid auszudrücken. Ich hörte nur zu. Er wußte, daß mir Fred viel bedeutete. Ich hatte über ihn bei unserer ersten Begegnung im Londoner Claridges-Hotel gesprochen. Dann kam er zum zweiten Punkt, zur Dokumentation. Er sehe vollkommen ein, daß ich im Moment damit überfordert sei. Aber ich hätte gut einen Monat Zeit, denn im Augenblick werde die Sache ohnedies vom aktuellen Dienst ausgewertet. Ich sei der geborene Mann für diese Art von Dokumentationen, und außerdem hätte ich den besten Überblick über das Material. Auch sei es seine Erfahrung, daß man mit dem Verlust eines geliebten Menschen am besten fertig werde, wenn man sich intensiv damit beschäftige.
Am Abend fand ich auf dem Band drei Anrufe meiner Eltern vor. Zuerst redete meine Mutter, dann mein Vater, schließlich noch einmal meine Mutter. Sie fragte am Schluß: »Hast Du schon mit Heather gesprochen? Wenn nicht, mußt Du sie anrufen. Das können wir Dir nicht abnehmen. Bitte, ruf sie an.«
Sie hatte recht. Ich mußte Heather anrufen. Aber ich war dazu nicht imstande. Wahrscheinlich wußte sie es ohnedies. Später in der Nacht hörte ich Gustav Mahlers Kindertotenlieder. Wenn dein Mütterlein, / tritt zur Tür herein, / und den Kopf ich drehe, / ihr entgegensehe.
Ich mußte sie anrufen. Wenn ich ihr einfach dieses Lied vorspielte und dann wieder auflegte, vielleicht würde sie es verstehen. Nein, nichts würde sie verstehen. Sie würde meinen, ich wollte sie sogar in dieser Situation noch verletzen. Es dauerte, bis ich mich aufraffte, meine ehemalige Londoner Nummer zu wählen. Da war es sicher schon drei Uhr nachts.
»Habe ich Dich geweckt?«
»Ja.«
»Weißt Du, warum ich anrufe?«
»Ja.«
Ich wußte nicht, was ich noch sagen sollte. Sie begann zu weinen. Nach einer Weile kamen auch mir wieder die Tränen. Wir sprachen nicht, wir weinten nur. Mir fielen keine Worte ein. Als es still wurde, sagte ich: »Wir sollten ein anderes Mal telefonieren. Willst Du noch etwas sagen?«
Sie wartete. Dann antwortete sie mit verheulter Stimme: »Fred muß in London bestattet werden.«
»Das kommt nicht in Frage. Ich möchte ihn bei mir haben.«
Da war es wieder still. Sie sagte nichts mehr und ich auch nicht. Sie will mir Fred wegnehmen, dachte ich. Wir schwiegen eine Ewigkeit lang. Am Schluß sagte sie: »Dann hast Du ja schon alles entschieden.«
»Sprechen wir ein anderes Mal darüber. Gute Nacht.«
Ich legte auf.
Bis zum Begräbnis dauerte es drei Wochen. Die Leichen wurden obduziert. Wissenschaftler aus der ganzen Welt machten sich an den Toten zu schaffen. Da die Kühlräume aller österreichischen Krankenhäuser zusammengenommen nicht in der Lage gewesen wären, die Toten aufzunehmen, wurde im
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