Opernball
dringend gebraucht.«
Er gehorchte. Auf der Weiterfahrt schalteten wir das Radio aus. Irgendwann begann Catherine zu singen. Es war eine zarte, schwebende Tonfolge, die sich kurz hob und dann sanft herabsenkte. Die Melodie wiederholte sich in einer höheren Tonlage, um am Schluß noch weiter in die Tiefe zu führen.
Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!
Bin Freund und komme nicht zu strafen.
Sei guten Muts! Ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen schlafen!
Ich habe das seither oft gehört. Aber damals kannte ich das Lied noch nicht. Ich fragte: »Was war das?«
»Das war die zweite Strophe, die des Todes, aus Schuberts Lied Der Tod und das Mädchen.«
Gegen fünf Uhr morgens trafen wir im Hotel Goldener Hirsch ein. Sie hatten ein Zimmer für uns.
Requiem
Während der Ballübertragung kam ein Anruf von der Generaldirektion in Paris. Das war etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht. Ich hatte keine Zeit, ihn entgegenzunehmen. Aber der technische Assistent drehte den Lautsprecher auf, so daß ich alles hören konnte. Irgend jemand empörte sich in französischem Englisch: »Was ist los mit Euch? CNN berichtet von Straßenschlachten in Wien. Im Moment sind sie sogar live dabei. Und was macht ETV? Bitte sofort Bilder von den Straßen. Nehmt eine Prinzessin mit hinaus und zeigt ihr die Hölle. Mehr Bewegung bitte. Volles Programm wollen wir haben, okay?«
Ich hatte sehr wohl mitgekriegt, was draußen los war. Der Lärm war zeitweise selbst im gut isolierten Regiewagen unüberhörbar. Außerdem hatten wir draußen eine Handkamera, die uns seit zehn Uhr abends die unerfreulichsten Bilder lieferte. Die Demonstranten kamen zeitweise bedrohlich nahe an unsere Sendewagen heran. Mit einem Auge verfolgte ich die Ereignisse auf diesem Bildschirm. Aber ich hätte nicht gewagt, sie einzublenden. Ich konnte doch nicht das von uns selbst organisierte europäische Medienereignis Opernball mit Bildern von Straßenschlachten versauen. Daß CNN aus der Not, nicht in die Oper reinzudürfen, eine Tugend machte und draußen filmte, hatte ich allerdings nicht gewußt. Ich zog drei Teams, deren geplante Interviews mir am entbehrlichsten schienen, vom Ball ab. Unsere Techniker montierten Hebebühnen mit Flutlichtern und Kameras. Wenn wir schon das Chaos sendeten, dann sollten wir auch davon die besseren Bilder haben.
Auf die Idee, Fred hinauszuschicken, bin ich nicht gekommen, obwohl ich wußte, daß ihm das mehr Spaß gemacht hätte, als in seiner Loge zu hocken und das Orchester zu filmen. Noch dazu in der einzigen Nichtraucherloge. Ich hatte für ihn um eine Ausnahmegenehmigung gebeten, aber die Feuerpolizei hatte sie abgelehnt. Die Beleuchtungsloge war voll mit Kabeln, von denen einige offenbar nicht mehr den neuesten Vorschriften entsprachen. Ich war mir sicher, Fred würde trotzdem rauchen.
Mit solchen Fragen quälte ich die Rettungsmannschaften, als ich an der Dokumentation der Opernballkatastrophe hätte arbeiten sollen: »Habt Ihr in der Beleuchtungsloge einen Aschenbecher gefunden?«
Die hielten mich für übergeschnappt. Da gab es Tausende Tote zu bergen, und dieser wahnsinnige Journalist will wissen, ob in einer bestimmten Loge ein Aschenbecher stand.
Sosehr ich mich auch immer wieder bemühte, einen Blick für das Gesamtbild zu haben, ich kam mit der Dokumentation nicht voran. Mich beschäftigte vor allem der Tod von Fred. Darüber hinaus interessierte mich natürlich, warum er ermordet wurde. Wie es zu diesem Anschlag kam. Mein Bandmaterial gab darüber keine Auskunft. Die Presseberichte über die Täter bestanden vor allem aus Vermutungen. Wie war es möglich, daß diese kleine Gruppe, die sich Bewegung der Vo lkstreuen nannte, drei Jahre nach ihrem Verbot nicht nur weiter existierte, sondern fähig war, die Wiener Staatsoper in eine Gaskammer zu verwandeln. Die Polizei ging ungemein dilettantisch vor. Es dauerte zwei Wochen, bis sie dahinterkam, daß es diesen Steven Huff aus Arizona wirklich gab. Und zwar als lebendigen Menschen in Ohio. Dann dauerte es ein paar weitere Tage, bis bekanntgegeben wurde, daß die beim Anschlag ums Leben gekommene Person namens Steven Huff niemand anderer war als der nach dem Gürtelhausbrand geflüchtete Führer der Bewegung der Volkstreuen.
In den Zeitungen waren endlos lange Totenlisten abgedruckt. Sie wurden täglich ergänzt. Die Straßen waren schwarz beflaggt. Von der provisorischen Regierung, unter der Leitung des Landwirtschaftsministers, war ein
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