Opernball
war es Mittag. Auch wenn zu erwarten stand, daß der Trauerzug eine halbe Stunde Verspätung haben würde, war es aussichtslos, noch rechtzeitig in die Gegend des Rathausplatzes zu kommen. Ich fuhr die Ungargasse hinauf und bog dann nach rechts in den Rennweg ab. Auch hier staute es sich. Um mein Auto loszuwerden, zweigte ich in die Reisnerstraße ab und fuhr dann ein paarmal im Kreis. In der Nähe der russischen Botschaft sah ich endlich jemanden sein Auto aufsperren.
Wir gingen zum Rennweg zurück und dann an der Parkmauer des Schlosses Belvedere entlang zum Schwarzenbergplatz. Ich sagte: »Wir kommen noch rechtzeitig zur Trauerminute vor die Oper.«
Es war ein kalter, aber gleichzeitig schöner Tag. Seit langem schien erstmals die Sonne. Schweigend gingen wir nebeneinander. Unser Atem dampfte. Als wir auf der Höhe des russischen Kriegerdenkmals waren, wunderten wir uns, auf dem Schwarzenbergplatz so viele Menschen zu sehen. Je näher wir zur Ringstraße kamen, desto dichter wurde das Gedränge. Die meisten Menschen waren schwarz gekleidet. Viele hielten brennende Kerzen oder Fackeln in der Hand. An einem Stand der antirassistischen Bewegung SOS Mitmensch kaufte ich für mich und Heather zwei Fackeln, die in Pappteller gesteckt waren. Zur Oper zu gelangen war aussichtslos. Den angekündigten Trauermarsch gab es nicht, weil so viele Menschen gekommen waren, daß sie nicht einmal auf der vorgesehenen Strecke Platz fanden. Niemand konnte sich irgendwohin bewegen. Weiter als bis vor das Café Schwarzenberg kamen wir nicht. Um ein Uhr läuteten alle Kirchenglocken. Es war plötzlich ganz ruhig geworden. Man hörte nichts außer Kirchenglocken. Die Menschen schauten zu Boden.
Neben uns stand der Kellner des Cafés Schwarzenberg. Er erkannte mich und drückte mir, nachdem die Glocken verstummt waren, die Hand. Ich sagte: »Das ist Freds Mutter.« Er drückte auch ihr die Hand.
Wir gingen schweigend zum Auto zurück. Es wurde eine lange und umständliche Fahrt bis zur Museumstraße. Ich trug Heathers Reisetasche bis zu Freds Wohnung. Dann sperrte ich auf und gab Heather den Schlüssel. Sie ging langsam und mit leisen Schritten durch die Räume. Ich folgte ihr. Hoffentlich beginnt sie nicht zu heulen, dachte ich, ich könnte sie nicht trösten. Sie sagte, sie wolle allein sein. Ich ging zum Ausgang. Dann drehte ich mich noch einmal um.
»Wenn Du etwas mitnimmst, bitte sag es mir, damit wir nicht später Streit deswegen haben.« Sie nickte. »Weißt Du«, fuhr ich fort, »wir sind beide bestraft worden. Ich will nie wieder Streit haben mit Dir. Es muß auch anders gehen.«
Sie schaute mich entgeistert an. Dann sagte sie: »Aber warum bin ich bestraft worden?«
Ich ging in meine Wohnung hinauf. In den Abendnachrichten wurde berichtet, daß zum Trauermarsch mindestens 600 000 Menschen gekommen waren. Die Aufnahmen vom Hubschrauber aus zeigten von der Universität über den Rathausplatz bis zum Stephansplatz und darüber hinaus ein einziges, vor allem schwarzes Menschenmeer. Um etwa zehn Uhr abends vergewisserte ich mich, daß in Freds Wohnung noch Licht brannte. Ich rief Heather an und fragte sie, ob ich ihr eine Flasche Rotwein bringen sollte. Sie hatte früher gerne Rotwein getrunken.
»Nein danke«, antwortete sie. Sie schien zu weinen.
»Ich stelle Dir eine Flasche vor die Tür.«
Ich nahm zwei Flaschen Bordeaux und ging zu Freds Wohnung hinab. Ich horchte an der Tür, aber ich hörte nichts. Ich stellte die Flaschen an der Türschwelle ab, und zwar so laut, daß Heather es vernehmen konnte. Während ich hochging, erlosch im Stiegenhaus das Licht. Ich ging im Dunkeln weiter. In meinem Stock blieb ich stehen und schaute über das Stiegengeländer nach unten. Hätte Heather die Tür geöffnet, wäre mir der Lichtschein nicht entgangen. Nach einiger Zeit vergeblichen Wartens ging ich in die Wohnung zurück.
Den nächsten Vormittag verbrachte ich im Studio. Immer wieder schaute ich mir die Bilder von Freds Ermordung an. Um drei Uhr holte ich Heather ab. Sie trug einen schwarzen Hut mit einem herabhängenden Seidenschleier, der das halbe Gesicht verdeckte. Ansonsten war sie wie am Vortag gekleidet. Als ich den Hut sah, erschreckte ich mich. Er war ein Zeichen der Unwiederbringlichkeit, während ich mir immer noch vormachte, es könnte irgendeinen Weg geben, der aus dem Unglück herausführte.
Ich hatte eine Einsegnung von Fred abgelehnt. Und ich wollte keinen Priester am Grab haben. Den Geschäftsführer von ETV
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