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Opernball

Opernball

Titel: Opernball Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Haslinger
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Schlachthof St. Marx für diesen Zweck ein Kühlhaus adaptiert. In einem Nebengebäude lagen die nicht identifizierten Leichen. Jeder, der einen Namen auf der Totenliste vermißte, war aufgefordert, zur Identifizierung nach St. Marx zu fahren. Ich sah zwar ein, daß den Behörden gar keine andere Wahl blieb. Aber die Vorstellung, daß Fred wie Schlachtvieh in St. Marx gelagert sei, war mir unerträglich. Ich hätte ein Recht gehabt, Freds toten Körper noch einmal zu sehen. Aber als ich im Fernsehen die Bilder dieser Massenabfertigung sah, verzichtete ich darauf.
    Heather rief an und fragte, wann das Begräbnis sei. Offenbar hatte sie eingesehen, daß sie keine Chance hatte, Freds Leichnam nach London zu überführen. Das Datum stand damals noch nicht fest. Ich versprach ihr, den Termin rechtzeitig mitzuteilen. Auch meine Eltern wollten zum Begräbnis kommen. Ich konnte es ihnen ausreden.
    Für den Tag, an dem die Leichen freigegeben wurden, rief die Regierung zu einem nationalen Trauermarsch auf. Die Menschen sollten sich zur Mittagszeit am Rathausplatz sammeln und, nach einer Rede des provisorischen Regierungschefs, über die Ringstraße bis zur Oper ziehen, wo um ein Uhr eine Schweigeminute vorgesehen war. Danach sollte der Trauerzug die Kärntner Straße hinabgehen und auf dem Stephansplatz mit einer Ansprache des Kardinals enden. Freds Begräbnis war für den späten Nachmittag des nächsten Tages auf dem Zentralfriedhof angesetzt.
    Heather wollte nicht nur zum Begräbnis kommen, sondern auch am Trauermarsch teilnehmen. Ich holte sie um halb elf Uhr vormittags von Schwechat ab. Vor dem Flughafengebäude waren statt der Flaggen aus aller Welt lange schwarze Trauerfahnen hochgezogen. In der Ankunftshalle standen schwarz gekleidete Menschen, die auf Angehörige warteten. Ich trank in einem zur Halle hin offenen Café einen großen Braunen, überflog die Zeitungen und schaute immer wieder zur gegenüberliegenden automatischen Tür, die sich alle Augenblicke öffnete und Fluggäste entließ. Einer Frau fiel ein Plastiksack vom Gepäckwagen, als sie ihre Angehörigen begrüßte. Es gab einen dumpfen Knall. Sie hob den Sack auf. Aus dem prall gefüllten Boden tropfte eine Flüssigkeit heraus. Sie schaute hilflos umher. Dann legte sie den Sack neben die automatische Tür und ging fort. Die braungelbe Flüssigkeit, vermutlich irgendein Likör, rann langsam zur Eingangstür. Fluggäste, die Gepäckwagen vor sich herschoben, sahen sie nicht. Sie fuhren darüber und schauten, wenn sie dann in die Lake stiegen, angewidert zu Boden. Offenbar war die Flüssigkeit klebrig. Sie nahm bald die ganze Fläche vor der automatischen Tür ein. Von ihr führten Streifen und Fußspuren weg, die sich in die Richtung der beiden Hallenausgänge verzweigten. Noch bevor Heather kam, wurde die Flüssigkeit von einer Putzfrau in blauem Schürzenkleid weggewischt.
    Das Flugzeug aus London war schon eine Viertelstunde als gelandet angezeigt. Ich stand auf und stellte mich vor die automatische Tür. Als sie sich wieder öffnete, sah ich Heather in der Ferne kommen. Ich erkannte sie an ihrer Art zu gehen. Dann stand sie in der Tür. Früher hatte sie ihre blonden Haare lang und meist gelockt getragen, jetzt waren sie kurz und dunkelrot gefärbt. Ihr langer, schwarzer Webpelz war nicht zugeknöpft. Darunter trug sie ein schwarzes Seidenkleid, durch das die Konturen eines schwarzen Büstenhalters schienen.
    Sie kam mit einer Reisetasche auf mich zu. Ihr Gesicht war ernst. Sie hielt mir flüchtig die Wangen entgegen, und ich berührte sie flüchtig mit den meinen. Sie hatte einen fremden Geruch. Ich fragte sie: »Wie war der Flug?«, und sie antwortete: »Ich war nicht die einzige Trauernde an Bord. Der Kapitän hat eine Kondolenzdurchsage gemacht.«
    Wir gingen zum Auto. Auf der Fahrt nach Wien saßen wir schweigend nebeneinander. Irgendwann fragte sie mich, ob Fred gelitten habe.
    »Ja, aber nur kurz.«
    Dann schwiegen wir wieder. Später sagte ich, sie könne Freds Wohnung haben. Es sei noch alles so, wie ich es vorgefunden hätte. Auf der Schüttelstraße waren Schilder aufgestellt: »Innenstadt gesperrt.« Bald staute sich der Verkehr. Wir fuhren über den Donaukanal in den dritten Bezirk hinüber. Ohne daß ich es beabsichtigt hatte, kamen wir in die Rasumofskygasse. Auch dort war ein Stau. Ich zeigte auf ein Haus an der rechten Seite. »Dort hat einmal mein Vater gewohnt.«
    Heather schaute aus dem Fenster, ohne ein Wort zu sagen. Mittlerweile

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